Wladimir Wolinsky ist ein kleiner Ort in der Westukraine. Im Ersten Weltkrieg verlief in seiner Nähe die Front zwischen Österreich-Ungarn und Russland. Der Ort wurde teilweise zerstört, ein österreichisches Armeekommando und große Kasernen wurden errichtet, Kriegsheimkehrer untersucht und verhört, Verletzte behandelt, die Zivilbevölkerung versuchte, nach dem Waffenstillstand vom Dezember 1917 zum normalen Alltag zurückzukehren. Und Fotografen im Dienste des k.u.k. Kriegspressequartiers dokumentierten jedes Detail im Mikrokosmos von Wladimir Wolinsky.

So geschah es an allen Fronten dieses Kriegs, der wie keiner zuvor auch mit Geschützen der Propaganda geführt wurde. Immer wichtiger wurden im Laufe der vier Jahre die Männer mit den Kameras, die das Heroentum der Monarchie hervorheben und die Realität der Kampfhandlungen beschönigen sollten.

Das taten sie auch, wie die Mehrzahl der 33.000 Originalglasplatten belegen dürfte, die im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt blieben. Ein Handgranatenangriff etwa wurde als muntere, natürlich von vollem Erfolg gekrönte Aktion inszeniert (und in der Zeitschrift Sport & Salon abgebildet ...).

Doch als professionelle Fotografen sahen sie mehr, als den Auftraggebern lieb war. Manche von ihnen fokussierten auf die Zerstörungen, Verletzungen und bleibenden Beschädigungen, die der Krieg bei Soldaten wie Bürgern hinterließ. Sie sahen in voller Schärfe ganze Provinzen, die verwüstet waren, und sie blendeten den Irrsinn von Grabenkämpfen nicht aus.

Auf diese Weise ist der Bildbestand der ÖNB ein ungeheurer zeitgeschichtlicher Schatz. Anton Holzer hat ihn gehoben. Der Historiker und Herausgeber der Zeitschrift Fotogeschichte führt exemplarisch vor, was in Fotos alles sichtbar wird, wenn sie in ihren Kontext gestellt werden - in die genauen zeitgeschichtlichen Umstände, die Intentionen der Lichtbildner, die (auch fälschliche) Kodierung durch die Nachwelt.

Von allein, das wird wieder einmal klar, sagen Bilder recht wenig und oft das Falsche. Es galt viel Schutt wegzuräumen und einen unideologischen Blick auf Szenen und Nebensächlichkeiten zu werfen, um die Gesamtheit einer propagandistischen Strategie zu erkennen (und den Überschuss wertzuschätzen).

Dieser Arbeit hat sich Holzer unterzogen. Darum ist der Band trotz der 520 Bilder mindestens so sehr ein Lesebuch und auf erfreuliche Weise - und dem Thema angemessen - nicht opulent, sondern im besten Sinn sachlich. Wenn er exemplarisch einen Ort wie Volodimir Volins'kij (so die heutige Schreibweise) als Schauplatz unterschiedlicher kommunikativer und ästhetischer Verfahren vorführt, dann ist das spannend und von einer Modernität, die man vielen heutigen Fotobuch-Texten wünschen würde. Die "Inszenierung des Anderen" etwa war längst schon damals angelegt und entzifferbar, wenn man weiß, wie.

Holzer weiß auch, wo die Grenzen der Erkenntnis liegen. Die Gewissheit über das Dargestellte wird zum Streitobjekt der Deutungshoheit, wie das hervorragende letzte Kapitel, "Die schwierige Erinnerung" nach 1918, belegt. (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9. 9. 2007)