Cover: Suhrkamp
Auch wenn es die erklärte Absicht des Kärntner Autors Josef Winkler war, sich mit seinen Indien- und Italienbüchern von der traumatisierenden Heimat freizuschreiben, schwangen in diesen Büchern doch immer die tief prägenden Kindheitserfahrungen im "wilden Kärnten" mit, ob sich der Erzähler nun am Schauspiel der Leichenverbrennungen im indischen Varanasi oder des Markttreibens auf einer römischen Piazza ergötzte. An beiden Orten faszinierte ihn das Ineinander von Leben und Tod, von Entstehen und Verwesen. In seinem neuen Buch sieht Winkler genau in diesem Aspekt den großen Unterschied zu der strikten Fernhaltung des Todes aus dem Leben im katholischen Österreich – oder genauer: der Fernhaltung des Lebens aus den Todesangelegenheiten, um die sich die Lebenden als Überlebende zu kümmern haben. Denn der Tod ist in der katholischen Kultur auch nördlich der Alpen allgegenwärtig. Am Ende erweist sich selbst das wilde Kärnten als "zivilisierter" als jene wirklich wilden Orte, und Winkler sehnt sich nach ihnen genau aus diesem Grund.

Roppongi – der Titel führt in die Irre. Oder doch nicht? Der einzige Grund für die Titelwahl war die Tatsache, dass Winkler vom Tod seines fast hundertjährigen Vaters im fernen Heimatdorf in Roppongi erfuhr, einem schicken Viertel von Tokio, wo auch das Gebäude der österreichische Botschaft steht. Japan kommt in Roppongi fast nicht vor, es ist bestenfalls Kulisse, ähnlich wie im Film Lost in Translation, aus dem Winkler ausgiebig zitiert. Vielleicht liegt das auch ein wenig daran, da Japan für den Winkler’schen Geschmack viel zu zivilisiert ist. Auf dem großen Fischmarkt, berichtet der Erzähler, werden die Tunfische mit einer elektrischen Säge zerschnitten. Kein Vergleich zu den liebevollen Gemetzeln auf der Piazza Vittorio Emmanuele! Und so geht es auch bald weiter nach Varanasi in Indien, wo Winkler ein weiteres Mal die Verbrennungsszenen protokollierend beschwört. Dass Winkler mit Roppongi einen großen Schritt auf dem Weg seiner literarischen Laufbahn tut, liegt nicht daran, dass er sein Kärntnertum – beflügelt vielleicht durch den Tod des sein bisheriges Leben bestimmenden Vaters – endgültig überwunden hätte, sondern an der Leichtigkeit und Bewusstheit, mit der er die verschiedenen Erzählebenen zueinander bringt und wieder voneinander entfernt. Diese Technik schafft Raum für Ironie und Witz, die zu den oft haargenauen (und trotzdem nicht selten fantastischen) Beschreibungen hinzukommen, die man von Winkler seit Langem kennt.

Die Obsession, die den Autor/Erzähler noch die kleinsten Details festhalten, und in bestimmten Fällen wiederholt festhalten oder leicht abwandeln lässt, wodurch der Realismus sofort in Manierismus umschlägt, diese Obsession schlägt durch, wenn er sich von Indien oder Japan aus ins Kärntner Dorf zurückversetzt und einen Begräbniszug imaginiert, an dem er nicht teilnehmen wird. In Roppongi thematisiert Winkler mehr als einmal den Vorwurf der Verleumdung, der üblen Nachrede, den ihm viele in seinem Heimatdorf machten und machen.

Natürlich ist Kunst Kunst, sind Winklers Bücher Fiktionen – besser gesagt: Übertreibungen. Die Verwandtschaft mit Thomas Bernhard betrifft nicht so sehr Thematisches als diese rhetorische Übertreibungstechnik. Die Ängste und Vorwürfe der Dorfbewohner haben aber einen harten Kern, denn die Redehaltung des Autors ist in solchen Passagen tatsächlich die einer zornentbrannten üblen Nachrede, die es genießt, über die Stränge zu schlagen, das heißt, Tatsachen zu übertreiben und auch zu erfinden. Diese Problematik kennt man schon aus den ersten Büchern Winklers; in Roppongi finden wir nun aber auch das eine oder andere rührende, durchaus "positive" Porträt, etwa von der alten Frau, der der halbwüchsige Erzähler sonntags die Kirchenzeitung bringt und auf deren Wohnzimmertisch immer eine Schüssel mit aufgeblasenen Plastikbananen steht, zu einer Zeit, da sich kaum jemand richtige Bananen leisten kann.

Die Winkler’schen Übertreibungen gehen in zwei Richtungen: Einerseits werden die Beschreibungen grotesk, etwa wenn der Bruder des Erzählers von seiner ersten größeren Auslandsreise mit einem Nasenring aus Dubai zurückkommt; andererseits setzt sich hin und wieder eine latente Neigung zu Kitsch und Sentimentalität durch, wie sie für die meisten schwulen Autoren von Hans Henny Jahnn bis Jean Genet – zwei von Winkler bewunderte Autoren – durchsetzt, etwa in der Beschwörung der beiden Todesengel, romantische Ikonen von Selbstmörderinnen, die von der Klagenfurter Stadtpfarrkirche in die Tiefe gesegelt sind.

In dieser Dynamik, egal, in welche der beiden Richtungen sie läuft, löst sich zuweilen die Verbissenheit, mit der Winkler seine Nachreden führt. Die erzähltechnische Wendigkeit von Roppongi ermöglicht es ihm, sich immer wieder ganz aus dem zwanghaften Kontext auszuklinken (auf den sein Schreiben immer noch angewiesen ist). Dann stößt man plötzlich nicht mehr nur auf Bekenntnisse eines Zerknirschten, der in der Brust des harten Beschreibers wohnt, sondern auf ironische, selbstironische Sätze wie: "Mich hatte es aber, nachdem ich schon viele Einäscherungen gesehen hatte und meine nekrophile Neugier gestillt war – ihr erinnert euch, die Flut meiner Erinnerungsbilder beginnt mit meinem dritten Lebensjahr ..." – hier folgt die Erinnerung an die tote Großmutter – "... nicht interessiert, ununterbrochen und immer wieder zuzusehen, wie Verstorbene am Ufer des heiligen Flusses verbrennen und eingeäschert werden ..." Und manchmal erlaubt sich Winkler sogar Witze, makabere Witze, die bei diesem ernsthaften Autor nie so inflationär werden können wie bei so manchem seiner österreichischen Kollegen. Zum Beispiel, wenn ein Literaturprofessor an der Hindu University die Winkler’schen Einäscherungsbeschreibungen mit den Worten kommentiert: "Very realistic! Very realistic!", um drei Tage später an einem Herzinfarkt zu sterben und am Ufer des heiligen Flusses eingeäschert zu werden.

Meine erste Begegnung mit Josef Winkler war im Wasserbecken eines japanischen Onsen (ein Bad), und ich erlebte ihn damals als Vater, der seinem achtjährigen Sohn Anweisungen betreffend das Verhalten im Bad gab. Später erfuhr ich, dass der Sohn den Vater bei seinem halbjährigen Aufenthalt in Indien begleiten würde. Mein Eindruck war, dass das Wohlergehen des Kindes der Karriere des Vaters notfalls untergeordnet werde, und ich begann mich zu fragen, ob Josef Winkler als Vater nicht die Erziehungsmuster, die er in seinen frühen Büchern anprangerte, auf seine Weise wiederholt. Trotz des Mitfühlens mit der Kreatur, mit Kindern und Tieren, das man in seinen Erzählungen immer wieder findet, in Roppongi beispielsweise mit den beiden Pferden, die einst die Mähmaschine des jetzt verstorbenen Vaters zogen. Schon länger hatte ich mich gefragt, ob nicht der Fleiß und die Strenge von Winklers Schreiben die Strenge des bäuerlichen Alltags, die in denselben Büchern beschrieben werden, auf einer anderen Ebene weiterführen. In Roppongi scheint an die Stelle dieser Eigenschaften, wenn auch zögernd, etwas anderes zu treten: Leichtigkeit, Gelassenheit – Tugenden, die die aus Indien stammenden Religionen prägen.( Leopold Federmair, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 08./09.09.2007)

Interview mit dem Autor: >>>"Der Angstschrei der Augen" Josef Winklers Buch "Roppongi. Requiem für einen Vater" gibt dem verstorbenen Vater ein ruhiges Totenlied mit auf die Reise – Ein STANDARD-Interview, in dem Sprechen zu Literatur wird