"Ist man imstande, seine Freunde ans Messer zu liefern?", fragt sich Paul Verhoeven: Carice van Houten als Rachel Stein und Sebastian Koch als Ludwig Müntze in "Black Book".

Foto: Einhorn

"Kein Fan von Charakterzeichnung": Paul Verhoeven, 1938 in Amsterdam geboren, drehte erst in den Niederlanden, später in Hollywood. Aufgrund expliziter Darstellung von Sex und Gewalt und ambivalenter moralischer Einstellungen, erregten seine Arbeiten immer wieder Aufsehen. Mit "Turkish Delight" gewann er den Preis des "Besten Holländischen Films des Jahrhunderts". Mit Filmen wie "RoboCop", "Total Recall" und "Starship Troopers" erwarb er sich in den USA den Ruf eines Action-Experten.

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"Black Book" handelt von einer jungen Jüdin inmitten kompromittierter holländischer Widerständler und wohlwollender Nationalsozialisten. Im Gespräch mit Cristina Nord bezeichnet Verhoeven seinen actionreichen Streifen als "B-Picture" ...

Standard: Herr Verhoeven, Sie wollten "Black Book" schon vor zwanzig Jahren drehen. Warum hat die Realisierung des Films so lange gedauert?

Verhoeven: Zum einen, weil ich in den USA lebte, zum anderen, weil wir lange unter dem Einfluss meines Films "Soldaat van Oranje" standen und deshalb einen männlichen Protagonisten im Sinn hatten. Der ist auch jetzt noch im Film, es ist der Segelschiffer vom Anfang. Die Idee war, dass das jüdische Mädchen zusammen mit ihren Eltern umgebracht würde; er sollte dann nach und nach herausfinden, dass es sich nicht um Zufall, sondern um eine Falle handelte, dass es Verrat seitens der holländischen Widerständler gegeben hatte.

Standard: Wie kamen Sie darauf, aus dem Protagonisten die Protagonistin Rachel zu machen?

Verhoeven: 2000, 2001 rief mich mein Drehbuchautor Gerard Soetemann an und sagte, er habe ein Gespräch mit einer jüdischen Frau geführt, die sich während des Krieges versteckte. Sie erzählte, dass sie aus dem Neuen Testament zitieren musste, bevor sie ihre Haferflocken essen durfte.

Standard: Eine Situation, die jetzt Rachel am Anfang des Filmes erlebt ...

Verhoeven: Ja, das geht auf die Erfahrungen dieser Frau zurück. Bei Gerard veranlasste das Gespräch ein Umdenken hin zur weiblichen Hauptfigur. Die Idee ging auf – 2003 war das Drehbuch fertig. Wir hatten viel Material gesammelt, viele Bücher gelesen, darunter Veröffentlichungen jüngerer Wissenschafter, die weder Heldenverehrung betrieben noch in Schwarz-Weiß-Mustern dachten. Das heißt auch, dass die holländische Öffentlichkeit vorbereitet war, als "Black Book" ins Kino kam. Durch die vielen Veröffentlichungen war der Gedanke nicht ganz neu, dass der Widerstand unrühmliche und die deutschen Besatzer nicht nur negative Seiten hatten.

Standard: Wäre eine Figur wie Müntze, der von Sebastian Koch gespielte SS-Offizier, den gute Absichten leiten, vor 20 Jahren denkbar gewesen?

Verhoeven: Es wäre schwieriger gewesen, sogar für Holland. Aber es hat sich viel geändert, was die Wahrnehmung der Vergangenheit betrifft. Vor zwei, drei Jahren gab es den Fall Campert – ein Dichter und Kriegsheld, dessen Lied an die 18 Toten jedes Jahr am 5. Mai, am Tag der Befreiung, im Fernsehen angestimmt wurde. Es hieß, er sei in Mauthausen von den Deutschen umgebracht worden. Aber ein Zeitzeuge sagte aus, Campert sei von anderen holländischen Häftlingen getötet worden, weil er im KZ mit den Deutschen kooperierte, indem er ihnen Fluchtpläne verriet.

Standard: Ihr Film ist sehr actionreich. Sie verschwenden keine Zeit auf die Entwicklung der Figuren, auf Psychologie oder einen behutsamen dramaturgischen Aufbau.

Verhoeven: Es ist eben ein B-Picture.

Standard: Warum haben Sie es so gemacht?

Verhoeven: Ich bin kein Fan von Charakterzeichnung; Charakter ist eine Illusion. Was mich interessierte, war, wie Menschen sich verhalten, welche Entscheidungen sie unter extremen Umständen treffen, in Situationen, die man nur als existenziell beschreiben kann, in denen der Tod allgegenwärtig ist. Wie weit würde man gehen? Was ist man zu opfern bereit? Wie wichtig ist einem das eigene Leben? Ist man imstande, seine Freunde ans Messer zu liefern?

Standard: Dazu gibt es nackte Haut und Schießereien ...

Verhoeven: Es wurde nun mal viel geschossen damals.

Standard: Man könnte das als frivol ansehen. Sie behandeln etwas sehr Ernstes und benutzen dafür einen Actionfilm.

Verhoeven: Deutsche haben in Auschwitz eine Million Menschen umgebracht; das ist nicht frivol, es ist Tatsache.

Standard: Die Frage stellt sich deshalb, weil es viele deutsche Filme gibt, die im entscheidenden Augenblick wegschauen. "Der Untergang" zeigt nicht, wie Hitler sich erschießt.

Verhoeven: Ja, aber es gibt diese lange Sequenz, die sich jenseits jeden Anstands bewegt: wenn Magda Goebbels ihre Kinder tötet – im Close-up, sechsmal hintereinander. Ich hab's nach zweimal begriffen, aber sie müssen uns alle Morde zeigen. Das ist wie in einem Horrorfilm, dekadent. Man merkt der Szene an, mit welcher Lust sie gedreht wurde.

Standard: Was ist denn der Unterschied zwischen solchen Sequenzen, bei denen eine Lust an der Gewalt im Spiel ist, und denen, die Sie drehen?

Verhoeven: Ich mache es sehr schnell. Die Schießerei auf dem Boot dauert fünfzig Sekunden. Es sind zwanzig Leute, bei zwei oder drei sieht man, wie sie getötet werden, die übrigen werden über Bord geworfen – Ende der Szene.

Standard: Eine Schlüsselszene spielt nach der Befreiung. Eine Gruppe, die man der Kollaboration verdächtigt, wird in einem Gefängnis geschlagen, gedemütigt, sogar mit Exkrementen übergossen. Es gibt viele Schaulustige, einer von ihnen schreit dann: "Wir wollen Titten sehen!" Und man sieht sie auch. Warum waren Sie in diesem Augenblick nicht diskreter?

Verhoeven: Weil genau das geschah. Ich habe diese Szene nicht erfunden, sie hat sich in der Wirklichkeit so zugetragen. Und ich wüsste auch nicht, wie ich es anders machen sollte. Wenn die Demütigung darin bestand, dass die Frauen ihre Brüste zeigen mussten, wie sollte man die Demütigung dann anders darstellen?

Standard: Und was, wenn die Lust des grölenden Statisten zur Lust des Zuschauers wird?

Verhoeven: Dann ist der Zuschauer so faschistisch wie der Kerl, der grölt. Das ist ja auch mit "Starship Troopers" passiert: Das Publikum ließ sich dazu verführen, an einer faschistischen Utopie teilzuhaben, und merkte zu spät, wie sehr es das genoss. Ich wollte zeigen, wozu die Holländer imstande waren. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16.8.2007)