Vor dem Zweiten Weltkrieg in Reps: Friederike Roth, Gerhard Roths Großmutterväterlicherseits aus dem abgedruckten Text.

Foto: Fischer Verlag
I.
Es wurde ein heißer Sommer. Die Fliegenfänger an der Decke waren pelzig von sterbenden Insekten, die sich zuckend bewegten, und vom Müllabladeplatz stank es stärker als zuvor, denn immer mehr fingen die Menschen an, Reste von Nahrungsmitteln wegzuwerfen, die auf der Deponie faulten. Wir hatten deshalb jede Lust verloren, uns dort herumzutreiben, und blieben im Garten, wo wir jedoch nicht viel weniger von den Gerüchen belästigt wurden.

II.
Eines Morgens, als ich wieder den Garten betrat, spürte ich, dass "etwas" nicht stimmte, als ob sich in einem gemalten Bild die Farbe veränderte. Von der Haustür aus hörte ich Großmutter neben der betonierten Mistgrube Holz hacken. Es war eine Tätigkeit, der sie gerne nachging, vielleicht dachte sie dabei an ihre Jugend, die sie auf dem Land verbracht hatte. Das Geräusch der Holz spaltenden Hacke und der zu Boden fallenden Scheite gab mir, obwohl es kein "anheimelndes" war, das Vertrauen in den Garten zurück. Ich setzte mich in die Laube, unentschlossen, was ich machen sollte. Meine Brüder waren im Haus geblieben, und Renate half ihrer Mutter in der Küche. Im Schatten der Weinlaubblätter überkam mich aufs neue ein ungutes Gefühl. Ich stand benommen auf und schlenderte zu den Blumenbeeten. Das "Vorausempfinden" eines Ereignisses, einer bedrohlichen Situation war für mich immer mit einem Verlust an Energie verbunden, es geschah etwas mit mir, ich wurde dann müde und gleichgültig, mein Instinkt setzte aus, und ich ließ mich treiben. Mit dem Geräusch des Holzhackens hatte ich, ohne Großmutter zu sehen, ihr Bild vor meinem inneren Auge. Ich konnte erkennen, wie sie gekleidet war und dass sie mir den Rücken zudrehte.

III.
Kein Windhauch bewegte die Löwenmaulblumen, die Frau Lehmberger gepflanzt hatte. Mein Vater hatte mir mit der kleinen Klinge seines Taschenmessers vorgeführt, wie die Bienen den Nektar von den Staubgefäßen saugten. Ich hockte mich hin, griff nach einer Blüte und öffnete sie mit einem sanften Druck von Daumen und Zeigefinger – im selben Augenblick sah ich das lidlose Auge einer Schlange, das starr auf mich gerichtet war. Wie ausgestopft lag sie vor mir, ein dickes, mit einem kleinen Horn über dem Maul ausgestattetes Reptil, das sich tot stellte. Stille hatte sich über uns gesenkt, die bunten Löwenmaulblumen schienen wie zum Hohn unbeteiligt die Sonnenstrahlen zu genießen. Als erwachte ich langsam, hörte ich jetzt gedämpft den Triebwagen hinter dem Haus vorbeifahren. Ich hockte noch immer da, bis kein Ton mehr von der Eisenbahn zu vernehmen war, und in die Totenstille hinein hörte ich das Spalten von Holz mit der Hacke und das Fallen der Scheite, während mich das Auge der Schlange weiter anstarrte.

IV.
Wie lange dieser Zustand dauerte, kann ich nicht mehr sagen. Eine Sekunde? Eine Minute? – Irgendwann ließ ich mich nach hinten fallen, rollte über einer Schulter ab und lief, so schnell ich konnte, zu Großmutter. Sie war genau so gekleidet, wie ich sie "gesehen" hatte, auch wies sie mir den Rücken zu.

Ich rief: "Eine Schlange! Im Blumenbeet ist eine Schlange!"

Großmutter legte die Hacke weg, hörte mich an, beruhigte mich, griff wieder nach dem Werkzeug und befahl mir, hinter ihr zu bleiben. Unterwegs hieb sie ein gabelförmiges Stück Ast von einem der Obstbäume, und ihr Gesichtsausdruck und das nervöse Schnalzen verrieten mir – zusammen mit den Vorbereitungen, die sie traf –, dass sie entschlossen war, die Gefahr zu beseitigen. Ich wusste, dass sich etwas Grausames ereignen würde, aber ich konnte nicht davonlaufen. Großmutter stocherte mit dem Aststück zwischen den Löwenmaulblüten, entdeckte das Reptil, das noch an derselben Stelle, an der ich es entdeckt hatte, regungslos verharrte. Sie drückte es rasch mit der Astgabel in die weiche Blumenbeeterde und hieb ihm, ohne zu zögern, mit der Hacke den Kopf ab.

V.
Schwarzes Blut rann aus dem zuckenden Körper, der sich wand, als sei er noch am Leben. Im Geist sah ich für einen kurzen Moment das Schlangenskelett aus dem Naturalienkabinett in der Schule, es ringelte sich wie das Reptil zwischen den Stängeln und Blüten. Ich verspürte, obwohl ich wusste, dass das Tier nicht mehr lebte, noch immer Angst. Großmutter blieb indessen ruhig, als sei sie das Schlangentöten gewöhnt. Mit der Axt schob sie den Kopf auf den Kiesweg, und ich fand, dass das kleine Horn und die lieblosen Augen, das schlitzförmige Maul und die geschuppte Haut nichts von ihrem furchterregenden Anblick verloren hatten.

VI.
"Eine Sandviper", sagte Großmutter.
"Ist sie gefährlich?"
"Ja."
"Sehr gefährlich?"
Sie nickte.
"Muss man sterben, wenn man von ihr gebissen wird?"
Wir gingen zurück zum Haus, und Großmutter nahm einen dort stehenden Blechkübel in die Hand, ohne die Hacke wegzulegen.
"Ja, wenn keine Hilfe kommt", antwortete sie.
Ich verstummte.
"Es muss noch eine zweite da sein", fuhr sie fort. "Sandvipern treten paarweise auf."

VII.
Die Nachbarschaft wurde verständigt, und sofort begann die Suche in den Gärten. Ein Lastwagen hielt an der Mülldeponie und lud ab. Staub vermengte sich mit dem fauligen Gestank und brannte in den Augen. Meine Mutter war mit Paul und Helmut herbeigeeilt, um den noch immer sich windenden Reptilienkörper und den Kopf, an dem die Augen langsam zu Schlitzen wurden, im Blechkübel zu sehen und sich hierauf vor Ekel abzuwenden. Wie ich selbst trugen auch meine Brüder nur kurze Lederhosen und keine Schuhe. Frau Lehmberger und Renate waren an das Küchenfenster getreten und zogen es vor, das Weitere in sicherer Entfernung abzuwarten.

VIII.
Immer wieder traten meine Brüder und ich an den Blechkübel heran, um hineinzustarren, bis Poldi Schlack angelaufen kam und uns ausrichtete, seine Mutter habe die zweite Sandviper vor der Baracke entdeckt. Wir stürzten sofort los, Mutter verbot uns aber, das Grundstück zu betreten. Herr Schlack hatte erst am Vortag einen neuen Drahtzaun aufgestellt, und wir kletterten auf das Tor und sahen zu, wie Großmutter sich mit dem Kübel, dem Aststück und der Hacke in den Händen dem Gemüsebeet näherte. Frau Schlack war herausgetreten und bemühte sich, mit einem Scherz die Situation zu entspannen. Frau Oberst spähte aus dem Nebengarten herüber, irgendwo bellte ein Hund. Als Großmutter die Sandviper entdeckte, köpfte sie diese wie die erste, jedoch schlängelte sich der Reptilienkörper an ihr vorbei und bewegte sich – schwarze Blutstropfen verspritzend – auf uns zu. Gleichzeitig öffnete sich die Gartentür, und meine Brüder und ich drehten uns unendlich langsam – wie mir meine Erinnerung zeigt – und vor Angst kreischend auf den sich windenden Torso zu. Der Vorgang spielte sich wie in einem Albtraum ab, und ein Zusammentreffen schien unvermeidlich, aber bevor es so weit war, hatte Großmutter mit dem Aststück den Körper der Viper erfasst und in den Blechkübel fallen lassen.

IX.
Wortlos ging sie an uns vorbei, und wir folgten ihr zur Mülldeponie. Aus gebührendem Abstand sahen wir dann, wie sie den Kübel mit einem Schwung ausleerte. Gleich darauf entdeckten wir die Schweine, die im Abfall nach Nahrung suchten. Schon als die Schlangenkörper durch die Luft flogen, eilten sie grunzend und mit flatternden Ohren herbei und stritten sich um die Beute. Ich sah, wie sie an den toten Reptilien zerrten, bis diese sich dehnten und schließlich auseinanderrissen, und wie sie nach beendeter Mahlzeit mit blutigem Maul weiter im Müll stöberten. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.08.2007)