Fragte nicht nach einem Warum, sondern analysierte, was damals geschah: Raul Hilberg, weltweit angesehener Holocaust-Forscher

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Wien – 20 Prozent erst wisse man über den Holocaust. Das meinte Raul Hilberg vor gut einem Jahr im STANDARD-Interview auf die Frage, ob nicht ohnehin schon fast alles über dieses dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts bekannt und erforscht sei. Was er nicht dazusagte: Nicht wenig dieser 20 Prozent geht auf das Konto des US-Politikwissenschafters und Historikers, der mit seinem Hauptwerk Die Vernichtung der europäischen Juden die moderne Holocaust-Forschung begründete.

Hilberg war vor einem Jahr aus Anlass einer Konferenz über Simon Wiesenthals Erbe nach Wien gekommen – seiner Geburtstadt, aus der er 1939 flüchten musste, ehe er über Frankreich und Kuba mit seiner Familie den USA landete. Als er 1944 als Soldat der US-Army diente, stieß er in München auf Teile der Privatbibliothek Hitlers.

"Das ist Ihr Untergang."

„Ich kann auf ein Warum (des Holocaust, Anm.) nicht antworten, weil ich lebenslang nur erforschte, was geschah“, meinte Hilberg einmal über sich selbst. Schon sein Studium stand im Zeichen dieses Erforschens. Als er seinem Doktorvater Franz Neumann 1948 dann mitteilte, über was er promovieren möchte, soll dieser lakonisch gemeint haben: „Das ist Ihr Untergang.“ Mit seinem Interesse am Holocaust war Hilberg damals ein völliger akademischer Außenseiter.

Dazu kam, dass er mit seiner Dissertation an der Columbia University nichts Geringeres vorhatte, als eine gesamte Geschichte des Holocaust zu schreiben. Für "Die Vernichtung der europäischen Juden", wie das dreibändige Werk schließlich heißen sollte, wertete er zahllose neue Quellen aus und bemühte sich, etwas zu erkennen, was viele seiner Zeitgenossen nicht erkennen wollten, wie es sein Kollege Götz Aly einmal formulierte: Hilberg urteilte nicht, er rekonstruierte politische Prozesse. Für ihn war der Holocaust kein „im Voraus geplanter, von einem Amt zentral organisierter Vernichtungsvorgang“. Und er vertrat die These, dass es den Tätern durch die Arbeitsteilung ermöglicht worden sei, sich als „kleines Rädchen im Getriebe zu empfinden“.

Erst sechs Jahre nach Fertigstellung fand das später stets aktualisierte Werk 1961 einen Verleger. (1959 hatte übrigens Hannah Arendt noch ein ablehnendes Gutachten verfasst.) Auf Deutsch erschien das dreibändige Buch erst 1982 in einem Kleinverlag, der prompt in Insolvenz ging.

Mit dem Alter wuchs die Anerkennung von Hilberg und seiner monumentalen Forschungsleistung, die weit über seinen Tod hinaus Standards setzt: 2002 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2006 wurde ihm das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

Am vergangenen Samstag erlag der weltweit angesehene Politologe 81-jährig in einem Hospiz in Vermont einem Lungenkrebsleiden. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 7. August 2007)