Der in Wien lebende Vorarlberger Autor Arno Geiger entdeckt in seinen mitunter hochkomischen Erzählungen die Schrecken der Banalität.

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Zu den schwierigsten Aufgaben des Homme de lettres überhaupt zählt längst nicht mehr die Beherrschung des Konjunktivs oder das Zurechtfinden im Synonymwörterbuch. Wer kann sich heute schon noch mit Möglichkeiten und Alternativen aufhalten, wenn schnelle, pragmatische Lösungen gefragt sind, die die Eventualität des Versagens unter keinen Umständen dulden? Stichwort: Schmeckt nicht, gibt’s nicht. Woran sich wirklich fast jeder vor allem zeitgenössische deutschsprachige Literat die Zähne ausbeißt, ist die ordentliche Beschreibung eines Geschlechtsakts. Was dazu führte, dass nämlicher in unseren Breiten heutzutage gleich überhaupt weggelassen wird. So weit, so schlecht. Aber: Keine Leser mit Plattheiten verschrecken! Eine weitere, schier unüberwindbare Hürde stellt in Folge die Schilderung einfachster Körperfunktionen dar. Seit der zeitlebens von diesem Thema faszinierte James Joyce zum Beispiel in seinem Ulysses seitenlang mit dem Ballast der Winde spielte, ist bis heute zu diesem Thema wenig Wesentliches nachgereicht worden.

Der in Wien lebende Vorarlberger Schriftsteller Arno Geiger, 2005 erster Preisträger des Deutschen Buchpreises für seinen ihm mittlerweile die Jahre zumindest bis zum Altersprekariat sichernden Familienroman Es geht uns gut, behebt jetzt diesen jahrzehntelangen Mangel in seiner Kurzgeschichtensammlung Anna nicht vergessen mit Bravour. In seiner im lapidaren, beinahe schnörkellosen Tonfall gehaltenen Erzählung Koffer mit Inhalt erfahren wir nicht nur vom Richtung tragische Ereignislosigkeit gehenden Schicksal von Herrn Gabriel. Ein pensionierter Bundesbahner ohne Auftrag, dessen ganze Freude es war, alljährlich auf den Bahnhöfen Wiens gestrandete Gepäckstücke in den Schalterhallen als launiger Auktionator zu versteigern. Zusätzlich macht ihm seine unter Kreislaufbeschwerden und Altersdepression leidende Frau daheim als die verschriebenen Psychopharmaka nicht vertragende Bettlägrige beängstigend Dampf. Das stinkt Herrn Gabriel gewaltig:

"Wenn Herr Gabriel in der Früh aufwachte, schaute sie ihn groß an, und in der Nacht, wenn er müde war von den Strapazen ihres Unglücklichseins, furzte sie ächzend und lüftete dauernd die Bettdecke, damit ihre Darmgase entweichen konnten. Dann lag sie bis zum nächsten Furz so still, daß das Ticken des Weckers den ganzen Raum aufsaugte und bei Herrn Gabriel erst recht Beklemmung verursachte."

Warum den geneigten Leser länger auf die Folter spannen: Es sind natürlich gerade vom Tageslicht nur selten gestreifte, möglicherweise nicht immer gustiöse, aber banale Geschichten wie diese, die Anna nicht vergessen als Zwischen- und Notlösung bis zum nächsten Roman Geigers zu einem kräftigen Statement wachsen lassen. Der 39-jährige Bregenzer Autor als einer der möglicherweise zentralen Chronisten nicht nur österreichischer Befindlichkeiten der letzten 20, 30 Jahre sucht seine Themen bevorzugt an den Rändern des Beschreibbaren. Wer nicht ganz genau aufpasst oder liest, versäumt mit Sicherheit das Beste.

Interessant und mitunter meisterlich allerdings, wie und vor allem an welchen unspektakulären Stellen Geiger seine Haken auswirft. Speziell in Momentaufnahmen wie Es rührt sich nichts (Kontrollwahn als Liebe getarnt) oder Abschied von Berlin (amouröses gleich existenzielles Phlegma) hat man es mit herrlich konstruierten Treppenwitzen zu tun, die auch ohne Zuspitzung für Hochkomik sorgen. Mit knapper, grundsätzlich dem so genannten Umgang verpflichteter Sprache (Fakten, Fakten, Fakten – und immer an die Leser denken!) inszeniert Geiger in zwölf Abschnitten die Schrecken des banalen Alltags – und lässt den Leser grundsätzlich unberaten zurück. Liebesbedürftigkeit, Sehnsucht nach Zuwendung, Eifersucht, das Ringen um ein kleines Stück vom Glückskeks, sieben Jahre Pech und der in die schnellen Zeiten passende Topos "Schade, aber egal". Große, meist als Schicksal empfundene Themen, eingebettet in kleine Leben, die nicht nur aufgrund von Blähungen ächzen, sondern auch wegen eines Drucks, dem man nur selten bewusst nachgeben kann. Ein Lieblingswort von Arno Geiger gilt als zu Unrecht verpönt: "Irgendwie" muss und wird es trotz aller schweren Prüfungen für dafür gar nicht ausgebildete Menschen weitergehen. Möglicherweise aber wird man selber nicht mehr dabei sein. Das Licht am Ende des Tunnels kann ja laut Murphys Gesetz auch ein entgegenkommender Zug sein. Der Autor spricht diesbezüglich von "natürlicher Schwankungserscheinung". Am Ende bleibt uns immer noch die Möglichkeit, dass etwas nie eintritt. (Christian Schachinger, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 04/05.08.2007)