Sie ist die große Unbekannte, die Unaufhaltsame, und man hat sie schon die "ephemere Tyrannin" genannt: die Zeit. Dem Jedermann läuft jedenfalls die Zeit zum Gutsein davon. Ein neues Buch macht nun zwei Fassungen des "Jedermann"-Stoffes zugänglich - und stellt die Konfessionsproblematik in den Vordergrund.

Illustration: Walli Höfinger
Der große Tagebuchschreiber Harry Graf Kessler bekam im November 1911 in Berlin von Hugo von Hofmannsthal den Jedermann zugesteckt. Die erste Lektüre brachte eine Enttäuschung: "Ich las ihn noch abends, kann aber wenig daraus machen. Diese ganze Welt ist uns heute von einem modernen Dichter naiv hingestellt gar zu unglaubhaft." Wenige Tage später nach der Premiere in der Inszenierung durch Max Reinhardt sah die Sache schon ganz anders aus: "Ich saß in einer Loge. Die Aufführung machte auf mich einen wesentlich anderen Eindruck als die Lektüre; sie rückte das Ganze ins Artistische. Die bunten Bilder verschleierten das für uns heute Befremdende der Konzeption." Noch einmal, ein paar Tage darauf, sitzt eine größere Runde in Berlin zusammen, und hier ist es der Komponist Richard Strauss, der eine interessante Voraussage für den Jedermann trifft: "Warten Sie, bis die Ultramontanen das Stück in die Hand bekommen; die machen daraus einen ganz großen, populären Erfolg."

Das konfessionelle Motiv, das hier anklingt (die papsttreuen "ultramontanen" Katholiken hatten in Berlin keinen leichten Stand und suchten deswegen nach kulturellen Bestärkungen ihres Standpunkts), hat den Jedermann durch die ganze Stoffgeschichte begleitet, und es ist auch bei Hugo von Hofmannsthal in der Fassung von 1911 keineswegs eindeutig katholisch gelöst. Die Allegorie der Werke, die sich mit dem Glauben die Arbeit an der Rettung des todgeweihten reichen Mannes Jedermann teilen muss, erscheint nicht von ungefähr "einer Kranken gleich, auf einem elenden Lager gebettet, (...) mit schwacher Stimme". Der Patient hat es an guten Werken in seinem Leben fehlen lassen, deswegen ist er nun in der letzten Stunde ganz auf den Glauben angewiesen, und erst auf diesem - latent protestantischen - Weg kann er sich für den Weg in die Grube entsprechend zurüsten.

Eines der ursprünglichen Motive für den neuen Jedermann war die Philosophie des Geldes von Georg Simmel, und in seinen Bemerkungen zum Stück hat Hugo von Hofmannsthal beinahe so etwas wie eine Vision von dem, was später der globale Kapitalismus werden sollte: "Denn das Geldwesen ist ein solches alle-verfangendes Netz, daß irgendwie ein jeder Reiche der Gläubiger und Fronherr jedes Armen ist. Der Reiche meint, er rührt keinen Finger, und doch schickt er bei Tag und Nacht Hunderte in den Frondienst, vor Tags müssen sie für ihn aufstehen, in den Wald hinaus oder in finstere Berggruben hinabsteigen oder ihr Fischerboot auf das kalte Meer hinausschieben, sein Hochmut ist, daß er sie gar nicht kennt: darin ist er von Sklavenhaltern verschieden."

Zwischen dieser Einsicht, die im Jedermann entschärft zur Geltung gebracht wird, und der religiösen Lösung im Jenseits liegt das Problem der unfairen Arbeitsteilung zwischen "Werke" und "Glaube". Wie sehr diese Frage schon die Tradition beschäftigte, wird aus einem neuen Buch ersichtlich, in dem Raphael Dammer und Benedikt Jeßing zwei alte Fassungen in einer seriösen Edition zugänglich machen: Der Jedermann im 16. Jahrhundert. Die Hecastus-Dramen von Georgius Macropedius und Hans Sachs. Zwei Autoren - ein niederländischer Katholik, der Latein schrieb, und ein Nürnberger Protestant, der Frühneuhochdeutsch schrieb - beschäftigten sich im frühen 16. Jahrhundert mit dem Jedermann-Stoff. Sie verstanden sich als Volksbildner. In einer Kultur, in der viele Menschen nicht lesen und schreiben konnten, war das Theater ein wichtiges Verständigungsmittel.

Georgius Macropedius stand der katholischen Reformbewegung der "Devotio Moderna" nahe (das Buch von der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen wird bis heute gern gelesen). Hier heißt der Jedermann noch Hecastus. Er ist ungefähr dreißig Jahre alt, als er recht unvermittelt in die Lage kommt, vor Gott über sein Leben Rechenschaft abzulegen. Von Plutus, dem Reichtum (später besser bekannt unter dem Namen Mammon), kann er nicht viel erwarten. Stattdessen sind da Virtus, die Tugend, und Fides, der Glaube, die sich für ihn stark machen. Der Priester Hieronymus macht deutlich, dass der Glaube an Christi Tod und Auferstehung auch den Glauben an die Sündenvergebung und damit an das individuelle Seelenheil beinhaltet. Aber es ist die Tugend, von der die theologische Pointe kommt: "Ist es denn keine gute Tat, wenn man Reue verspürt, weint und an Jesus Christus glaubt?" So wird der Glaube selbst zum "opus bonum", zu einem "guten Werk".

Der Hecastus fand große Verbreitung, und es überrascht nicht, dass er viel Beifall von der - aus Sicht des Autors - falschen Seite bekam. Denn die Protestanten fanden sich mit ihrer Lehre, dass allein der Glaube selig macht und es auf die guten Werke im Leben zur Buße für die eigenen Sünden letztendlich nicht ankommt, im Hecastus so gut vertreten, dass Georgius Macropedius sich 1552 zu einer Überarbeitung des Stücks gezwungen sah. In einer eigens dafür verfassten Vorrede wandte er sich gegen "gewisse Irrlehren unserer Zeit" und meinte damit die protestantische Auffassung, "dass es den Sündenerlass ohne Werke der Buße und ohne die Sakramente der Kirche, durch nichts weiter als den Glauben an Christus und von Herzen kommende Zerknirschung" geben könnte. Die Herausgeber arbeiten in ihrem Vorwort sehr pointiert heraus, dass seine theologische Lösung eine dramaturgische war: "Die Zeit spielt in diesem Stück eine entscheidende Rolle. (Der Hecastus) hat keine Zeit mehr für gute Werke. In einer solchen Notlage muss auch einmal der Glaube genügen."

Bei Hans Sachs, dem Schuhmacher aus Nürnberg, der den Hecastus aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte und überarbeitete, wird die Sache dann eindeutig protestantisch: "Ich glaub die zwölff Artickel schlecht des Glaubens, das sie all sind war." Und nachdem er mit dem Priester die wesentlichen Glaubensinhalte noch einmal ausdrücklich durchgesprochen hat, kann "der Reich sterbent" aufatmen: "Erst dunckt mich, ich sey new geborn. Gott sey ewig lob, preiß und ehr! Mein Gwissen beist mich gar nit mehr."

Die protestantische Rechtfertigungslehre mit ihrer Konzentration auf das individuelle Gewissen entschärft also schon früh im Jedermann die andere Erzählebene, die noch auf eine Vorstellung von Gerechtigkeit abzielt. Der ungleich verteilte Reichtum könnte jene guten Werke erwirken, für die es in der entscheidenden Stunde zu spät ist. Hofmannsthals Jedermann sieht das Geld als ausschließlich persönliche Produktivkraft: "Mein Geld muss für mich werken und laufen/Mit Tod und Teufel hart sich raufen/Weit reisen und auf Zins ausliegen/Damit ich soll, was mir zusteht, kriegen."

Durch die Konzentration auf das Seelenheil bleibt am Ende auch jene andere Form der "Werke" unbedacht, die im Finanzvermögen selbst steckt. Denn dadurch, dass der Jedermann sein Geld nicht mit ins Grab nehmen kann und es jenseitig keine Wirkung hat, bleibt es ja in der Welt und kann nun durchaus, wenn auch dem ursprünglichen Eigentümer nicht mehr in jedem Fall intentional zuzuschreiben, noch eine Menge positiver Dinge bewirken. In der heutigen Zeit wäre dieser "hohe Flug" der Werke posthum vielleicht durch eine Stiftung zu bewerkstelligen. Wenn Menschen ihr Vermögen einer Universität, einem Museum (oder in manchen Fällen auch immer noch einer Kirche) hinterlassen, dann kann das auch als gelungener Versuch zu werten sein, sich selbst durch eigene gute Werke zu überleben. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das ganze Geld nicht schon zu Lebzeiten verbraucht wird - Verschwendung kann allerdings ebenfalls ein "gutes Werk" sein, wirkt sie doch in der Regel belebend auf die Konjunktur. All das wären Denkmodelle, wenn jemand versuchen würde, eineen künftigen Jedermann nicht mehr auf das Seelenheil hin aufzulösen (und auf dessen konfessionell geprägte Vorbedingungen), sondern auf neuere Formen des - ideellen - Nachlebens, in die sich so viel von den überkommenen Moralvorstellungen hinübergerettet hat. (Bert Rebhandl /ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 07./08.07.2007)