Am Fluss Leffey hält der Boom Dublins an.

Foto: Tourism Ireland
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Zu beiden Seiten des Ufers siedeln sich dank der niedrigen Besteuerung von Firmengewinnen Unternehmen an.

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Dublins 120 Meter hoher Millennium-Spire.

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Wäre Dublin eine Frau, sähen wir ein junges Mädchen vor uns, nicht hübsch, nicht hässlich. Sie würde ständig G'wand kaufen, Make-up wechseln, ihre Haare richten. Wäre Dublin ein Musikstück, hörten wir es quietschen, hämmern, brummen.

Gut zehn Jahre nach dem Beginn des irischen Wirtschaftswunders erfindet sich die Hauptstadt nicht gerade neu, doch an der Fassade wird heftig gewerkelt. Sonderwirtschaftszone ist die Stadt schon seit 2005 nicht mehr, doch nach wie vor zieht die niedrige Besteuerung von Firmengewinnen Unternehmen in die Stadt: in die Docklands, Dublins neues Quartier östlich des Zentrums, zu beiden Uferseiten des Flusses Liffey. Von hier ist's nicht mehr weit zur Mündung in die Irische See. Wo früher ein paar Warenhäuser in rotem Klinkerkleid standen, sonst aber überwiegend Brachland war, lässt sich der Nach-wie-vor-Boom Dublins am besten ablesen: an gläsernen Neubauten mit internationalen Firmenschildern und adretten Anzugträgern, die mittags an die Quais strömen.

Hier wohnen? "Sicher!", meint Jenny Tomlin. Die 28-Jährige, kurzes, hennarotes Haar, rundes Gesicht, offenes Lächeln, treffen wir in den Docklands am Grand Canal. Aus dem Drei-Zimmer-Apartment, das Jenny mit Freund und einem zweiten Paar bewohnt, schauen wir direkt auf eine Baugrube. Dort schaufelbaggert man noch bis 2009 an Dublins neuem Theater, einem scharfwinkeligen geometrischen Bau von Daniel Libeskind, ein paar Meter weiter beginnen sie bald mit einem Fünf-Sterne-Hotel.

Fingerdick klebt der Staub auf Jennys Fenstern, und selbst an Samstagen lärmen die Baufahrzeuge. Vor anderthalb Jahren zog Jenny in die 60 Quadratmeter, nun könnte sie ihre Unterkunft für 250.000 Euro mehr verkaufen, als sie gezahlt hat. Denn "Docklands" steht nicht nur für ein gigantisches Bauprojekt, das bis 2012 abgeschlossen sein soll. Sondern auch für eine fette Immobilienblase, von der niemand weiß, wann sie platzt. Momentan jedenfalls will jeder, der es sich leisten kann, hierhin, sagt Jenny. "Ist aufregend, in einem Viertel zu leben, das völlig neu aufgebaut wird!" Und verbindet damit die Hoffnung, dass sich mit dem Geld auch ein kulturelles Leben einnistet, welches den Namen verdient. Anders als in Dublins zuletzt aufgehübschtem Bezirk, Temple Bar, wo heute Tag und Nacht das Partyvolk von Pub zu Pub pilgert. Kein Wunder, denn beinahe die Hälfte von Dublins Einwohnern ist jünger als 25.

Bevor allerdings die Kunst in die Docks kommt, werden auf einer Fläche von mehr als 500 Fußballfeldern Apartmentanlagen und Bürohäuser hochgezogen. 42.000 Menschen sollen hier wohnen und 40.000 neue Jobs entstehen. Wassertaxis könnten die Touristen auf den Kanälen herumfahren, und eine schwenkbare Brücke des spanischen Architekten Calatrava soll beide Seiten der Docklands verbinden. Hat das Land eigentlich realisiert, wie viele Leute mittlerweile eingewandert sind und was dies für Irland bedeutet? In manchen Volksschulklassen sprechen die Kinder nicht einmal Englisch - weil ihre Eltern eingewandert sind und sich in der Stadt nur unter ihresgleichen bewegen. Jenny zweifelt: "Wir haben nicht einmal ein Ministerium für Einwanderung. Progressiv ist etwas anderes. Zwar wird darüber debattiert, aber letztlich bedeutet der Regierung die Lokalpolitik mehr als das Denken in großen Zusammenhängen."

Die letzten Wahlen liegen nur wenige Monate zurück, Premier Ahern koaliert nun erstmals mit den Grünen. Sie haben das Ministerium für Umwelt und Straßenbau bekommen. Vielleicht ein Glück für die Stadt, die langsam an ihren Pkws und den tausenden Trucks an der Liffey zu ersticken droht. Ganze Abende lassen sich in Dublin damit verbringen, über das öffentliche Verkehrssystem zu schimpfen. Ein Lieblingsthema von John und Joe, Stammgäste im Grogans Pub. Um die beiden zu treffen, verlassen wir die Docklands Richtung Innenstadt, vorbei am Trinity College, queren die übervolle Fußgängerzone Grafton Street, auf der der Passantenpulk uns hin- und herschiebt wie eine Flipperkugel.

Das Grogans kommt, sehr unirisch, vollkommen ohne Musik aus. Hat dafür Teppiche auf dem Boden und an den Wänden eine wechselnde Kunstausstellung. John schaut aus wie Peter Handke, Joe wie der alt gewordene Hardy Krüger. Zusammen reden sie sich den Mund fusselig, am liebsten über Politik. "Wer in Irland von Immigration redet, wird als Rassist gescholten", behauptet Joe, bevor er, und das ist hier natürlich kein Klischee, einen Schluck Guinness nimmt. "Einwanderung ist einfach kein öffentliches Thema." Dingfest macht er das etwa an den statistischen Zahlen für chinesische Einwanderer: 12.000? Daran glaubt kein Mensch, der mit offenen Augen durch die Straßen geht. Oder gar Dublins Chinatown ausfindig macht, weg von der Liffey, die O'Connell Street runter, bis die Parnell Street kreuzt.

Das alte Geburtsrecht wurde übrigens vor Kurzem abgeschafft. Durch dieses wurden Kinder von Fremden automatisch eingebürgert. Zehn Prozent der Bevölkerung stammen aus dem Ausland, und insbesondere die jungen Einwanderer ahmen die Iren nach, geben sich irischer als diese selbst. "Vielleicht ist Dublin genau deshalb eine so junge Stadt geblieben, die sich mit Verve der Kultur der ewigen Jugend und dem hingibt, was man the craic nennt." Behauptet Hugo Hamilton, wobei er mit "craic" das irische Wort für Spaß meint. 50 Jahre nach Heinrich Böll hat der Schriftsteller aus Dublin ein irisches Tagebuch verfasst. "Die redselige Insel" (Sammlung Luchterhand) lebt von der genauen Beobachtung, von den Interpretationen, die er daraus ableitet. Wie jene über ein junges Wahrzeichen, den stählernen Springturm in der O'Connell Street. Bis 1966 stand hier eine Säule des britischen Admirals Nelson. Zum 50. Jahrestag des irischen Aufstands wurde das ungeliebte Denkmal entfernt.

Nun ragt hier diese Nadel in den Himmel, "so hoch, dass sich nicht einmal Möwen darauf niederlassen können, um von oben die Stadt zu beobachten". Eigentlich weiß niemand, zu wessen Angedenken das Millennium Monument dient. "Früher so empfindlich, was ihre Geschichte betraf", liest man bei Hamilton, "haben die Iren begonnen, das große, heldenhafte Nichts zu verehren." Geschichtsvergessene Iren? Einspruch! Zurück in den Docklands stoßen wir auf ein grünes Blechohr an einem Laternenpfahl. "Murmur", also Raunen, lesen wir, und eine Telefonnummer. Wer dort anruft, hört vom Band Geschichten aus Dublins Vergangenheit. Alte Dubliner erzählen, wie es war, als die Stadt noch nicht Finanzzentrum und Partystadt war. Über die gesamte Stadt verteilen sich die grünen Ohren. Ein Versuch, ein Stück des Alten hinüberzuretten in die neue Zeit. Man muss die Augen aufhalten, um die Zwischentöne dieser Stadt zu finden. (Mareike Müller/Der Standard/Rondo/26.7.l2007)