Ein neuer Forschungsschwerpunkt in Graz soll nun die mathematische Grundlagenforschung für medizinische Anwendungen weiter vorantreiben.

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Ein Großteil der modernen Diagnose- und Therapieverfahren in der Medizin wäre ohne den Einsatz hochkomplexer Mathematik undenkbar. Sie liefert die Basis beispielsweise für neue Operationsmethoden, indem sie vor deren klinischer Anwendung eine Überprüfung am "virtuellen Menschen" erlaubt.

Voraussetzung dafür ist die Entwicklung von Rechenmodellen, die eine Rekonstruktion bzw. Simulation von Organen oder Zellen mithilfe am Körper messbarer Informationen ermöglichen.

Unblutiges Messen

"Auf diese Weise", so der Grazer Mathematiker Karl Kunisch, "kann man durch nicht invasive, also 'unblutige' Messmethoden etwa gesundes von krankem Gewebe unterscheiden, Größe und Volumen von Tumoren erfassen oder die Durchblutung und Funktion von Organen bestimmen."

Im Rahmen eines vom FWF mit über 2,6 Millionen Euro geförderten Spezialforschungsbereichs (SFB) soll nun jene mathematische Grundlagenforschung vorangetrieben werden, auf deren Erkenntnisse neue Entwicklungen in der Biomedizin angewiesen sind.

"Wissenschaftliche Mathematik in der Medizin spielt bei der Optimierung bildgebender Verfahren eine zentrale Rolle", erklärt SFB-Sprecher Kunisch. Etwa bei der magnetischen Induktionstomografie, mit der die Ausdehnung eines Ödems direkt am Krankenbett laufend kontrolliert werden kann.

"Diese Online-Überwachung ist für Patienten auf der Intensivstation beträchtlich weniger belastend als häufige CT-Untersuchungen, da sie ihre Betten nicht verlassen müssen", so Kunisch. "Außerdem ist sie billiger und damit für den Dauereinsatz geeignet."

In der medizinischen Praxis ist dieses Verfahren allerdings noch nicht anwendbar. Ein Grund für die Forscher, sich dieser mathematisch äußerst anspruchsvollen Methode im neuen SFB intensiv zu widmen.

Neben wichtigen Weiterentwicklungen im Bereich der Magnetresonanztomografie konzentriert sich eine Gruppe von Wissenschaftern auch auf die optische Fluoreszenztomografie. Ihr Einsatzgebiet liegt vor allem im Bereich des "Molecular Imaging", das ein wichtiges Instrument etwa in der Tumorforschung ist.

Die Untersuchung der Organe und Gewebe erfolgt hier mittels Licht emittierender Substanzen, welche an andere Trägermoleküle gebunden werden. In Tierversuchen konnte man bereits erste Erfahrungen mit dieser Methode sammeln.

Zurzeit gibt es allerdings erst wenige Geräte, die tomografische Bilder dieser Lichtsignale aus dem Körper liefern können. Im Rahmen des SFB sollen nun Magnetresonanztomografie und Fluoreszenztomografie zu einem Hybridverfahren verbunden werden, welches besten Weichteilkontrast und hohe Auflösung mit spezifischer molekularer Information verbindet.

Virtuelles Herz

Ein zentrales Forschungsthema ist auch das "virtuelle Herz", in dem es um die exakte Erfassung der Erregungsausbreitung am Herzen und damit die Lokalisierung jener Zentren geht, die Herzflimmern auslösen und aufrecht erhalten.

"Diese Zentren über die an der Körperoberfläche gemessenen Daten zu bestimmen ist mathematisch alles andere als trivial", erklärt der Medizintechniker Rudolf Stollberger. "Bislang kann man diese Informationen nur am offenen Herzen, also während einer Operation gewinnen."

Ein genaues Herzmodell soll es möglich machen, die gefährlichen Zentren nicht invasiv, also ohne operativen Eingriff aufzuspüren.

Zur Konstruktion des virtuellen Menschen stehen den Wissenschaftern also unterschiedlichste Methoden zur Verfügung, für die jeweils entsprechende mathematische Modelle – so genannte Multiphysics-Modelle – entwickelt werden. Diese Modelle wiederum müssen numerisch mittels "Scientific Computing" auf mehreren parallel arbeitenden Prozessoren ("Parallel Computing") umgesetzt werden.

Da ein realitätsnahes Modell, das elektrische Aktivität, mechanische Kontraktion und Blutfluss simuliert, auch auf den leistungsfähigsten heute zur Verfügung stehenden Supercomputern eine enorme Herausforderung darstellt, spricht man von "Large-Scale-Simulationen" medizinischer Vorgänge.

Robuste Verfahren

Ziel dieser komplexen Simulationen ist beispielsweise, beim Herzflimmern den Defibrillationsvorgang – bei dem durch die Verabreichungen von elektrischen Schocks der natürliche Rhythmus des Herzens wiederhergestellt werden soll – so zu optimieren, dass schädliche Nebeneffekte minimiert werden. "Die Voraussetzung dafür", so Stollberger, "sind schnelle, effiziente und robuste mathematische Verfahren, von denen die meisten auf Differenzialgleichungen beruhen."

Insgesamt neun Forschergruppen an drei Grazer Universitäten arbeiten in diesem SFB zusammen, jede einzelne mit Kooperationspartnern auf der ganzen Welt. "Die Kombination von Mathematik und Life-Sciences ist ein international aufstrebendes Forschungsfeld, das in Europa bislang nur an wenigen Zentren aufgegriffen wurde", erklärt Karl Kunisch. "Neben Heidelberg und Berlin sind wir im deutschsprachigen Raum die einzige interdisziplinäre Forschergruppe, die sich so intensiv mit dieser Thematik befasst." (Doris Griesser, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18. Juli 2007)