Prag muss Wien gemäß dem Melker Protokoll über alle Vorfälle ab Stufe 1 innerhalb von 72 Stunden informieren. Das Umweltministerium hat nun eine Dringliche Anfrage mit der Bitte um Aufklärung an das Außenministerium in Prag gerichtet. Die hohe Zahl der nicht gemeldeten Fälle sei "eigenartig", so Popp. Ob aber tatsächlich eine Verletzung des Melker Abkommens vorliegt, werde noch geprüft, hieß es aus dem Umweltministerium.
"Keine Abkommen gebrochen"
Die tschechische Behörde für Atomsicherheit (SUJB) wies die Vorwürfe österreichischer Atomgegner zurück. "Die Tschechische Republik hat definitiv keine Abkommen gebrochen, die es mit Österreich unterzeichnet hat," sagte SUJB-Chefin Dana Drabova am Montag. Drabova räumte aber ein, dass die Atombehörde öfter die Einstufung eines Ereignisses rückwirkend von Stufe 0 ("Ereignis ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung") auf Stufe 1 ("Störung") ändere, manchmal auch erst nach Monaten. In diesen Fällen habe die 72-stündige Frist keinen Sinn mehr, weil man ja die Zeit nicht zurückdrehen könne. Die SUJB-Direktorin wies darauf hin, dass es international erst ab einem Ereignis der Stufe 2 ("Störfall") üblich sei, die Nachbarländer von dem Ereignis in Kenntnis zu setzen.
"Die Einstufung der Ereignisse in Temelin folgt nicht nachvollziehbaren Maßstäben", kritisierten unterdessen Vertreter der Plattform atomstopp_oberoesterreich am Dienstag in einer Aussendung. Der Austritt von 3.000 Liter radioaktivem Wasser am 6. Juni 2004 sei von der tschechischen Atomaufsicht als INES-1 bewertet worden, der Austritt von 20.000 Liter radioaktivem Wasser am 20. Dezember 2004 hingegen als INES-0. "Ist hier Willkür am Werk?", fragen sich oberösterreichischen Temelin-Gegner.
Störfall-Skala
Die Störfallskala der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA bzw. IAEO) umfasst die Stufen 0 bis 7. Bei Stufe 1 handelt es sich um eine "Störung", deren Merkmal eine Abweichung vom sicheren Betrieb der Anlage ist, jedoch ohne Austritt von Radioaktivität innerhalb oder außerhalb der Anlage. Ab INES 2 sprechen Experten von einem "Störfall". Die höchste Stufe ist "ein katastrophaler Unfall" wie jener im Atomkraftwerk Tschernobyl im Jahr 1986.
Die österreichisch-tschechische Interparlamentarische Temelin-Kommission wird sich am Mittwoch in Prag mit den nicht-gemeldeten Zwischenfällen befassen, erklärte der österreichische Delegationsleiter, Bundesrat Albrecht Konecny (S) gegenüber der APA. Ziel der Interparlamentarischen Kommission sei es aus österreichischer Sicht, eine "dritte Stelle" einzurichten, die offene Streitfragen "beurteilen" soll. Unterschiedliche Ansichten gibt es etwa in Fragen der Sicherheitstechnik, der Erfüllung der im Melker Protokoll geschlossenen Vereinbarungen und der kommerziellen Inbetriebnahme des tschechischen Atommeilers. Der tschechische Außenminister Karl (Karel) Schwarzenberg hat sich unlängst in Wien für die Einbeziehung ausländischer Experten ausgesprochen.