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Der deutsche Vizekanzler Franz Müntefering im STANDARD-Interview: "Sozialdemokratie und die Gewerkschaften haben sich nicht gut organisiert in den letzten 20 Jahren. Mit der Globalisierung und Europäisierung haben wir nicht Schritt gehalten."

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Angela Merkel agiere oft als Parteichefin und nicht als Kanzlerin, kritisiert der deutsche Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) und glaubt dennoch, dass die große Koalition bis 2009 hält. Von der SPD fordert er aber mehr Engagement. Mit ihm sprach Birgit Baumann.

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STANDARD: Ist die SPD koalitionsmüde? Oder warum sonst haben Sie der Union ein paar Stunden nach dem Kompromiss zum Mindestlohn in ungewohnter Schärfe einen Mangel an Moral vorgeworfen?

Müntefering: Das war kein Kompromiss. Wir wollten 100 Prozent, der Koalitionspartner wollte null. Erreicht haben wir 50 Prozent, womit wir uns nicht zufrieden geben. Das haben wir von Anfang an klargemacht. Trotzdem werden wir nutzen, was erreicht worden ist und versuchen, in einzelnen Branchen Mindestlöhne anzuregen.

STANDARD: Man hat eher den Eindruck, Sie wollen nutzen, was nicht gelang und nun die nächsten zwei Jahre erklären, dass die Kanzlerin schuld sei, wenn in Deutschland weiterhin Hungerlöhne bezahlt werden.

Müntefering: Das ist ja auch so. Der Koalitionspartner hat es abgelehnt, die Sittenwidrigkeit von Löhnen wirklich zu verhindern. Es geht um Löhne, die so niedrig sind, dass man davon nicht leben kann. Das führt dazu, dass der Staat über Sozialtransfers zahlt, was die Unternehmen nicht zahlen. 600 000 Menschen arbeiten voll und sind trotzdem auf Arbeitslosengeld angewiesen. Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. Passender wäre Planwirtschaft oder Staatslohn.

STANDARD: Wie geht es in der Koalition weiter, wenn der Vizekanzler die Bundeskanzlerin so massiv angreift?

Müntefering: Das ist nicht persönlich. Wir gehen mitteleuropäisch zivilisiert miteinander um. Reibung erzeugt Hitze aber auch Fortschritt. Darauf setze ich: Die Koalition muss besser werden. Sie hat noch eine Menge Arbeit vor sich.

STANDARD: Durch die neue Linkspartei wird immer wahrscheinlicher, dass die Regierung künftig aus drei Parteien bestehen wird, wenn es keine große Koalition geben soll. Was heißt das für die SPD?

Müntefering: Das tut sie heute schon. Drei Parteien geht, das ist geklärt. Denn die dritte Partei heute ist die CSU. Glauben Sie mir: Die Union ist nicht eine Partei.

STANDARD: Bequem ist es für die SPD nicht. Sie ist eingeklemmt zwischen Linken und Union.

Müntefering: Man kann das so sehen. Man kann es aber auch ganz anders sehen. Bei der letzten Bundestagswahl ist schwarz-gelb gescheitert. Die marktradikale Linie ist weg, die CDU besinnt sich darauf, dass sie auch soziale Komponenten vertreten muss. Selbst die FDP entdeckt das Thema. Es gibt eine breite Schneise für sozialdemokratische Politik in Deutschland. Die Frage ist bloß: Wem kommt das zugute? Ich sage meiner Partei: Wir sind das Original und das müssen wir den Menschen begreiflich machen.

STANDARD: Aber ein Teil der SPD trägt die eigene Reformpolitik noch immer nicht mit.

Müntefering: Der größte Teil aber doch. Die anderen müssen wir weiter überzeugen. Soziale Gerechtigkeit sieht heute anders aus als vor hundert Jahren. Sie hat heute mehr als damals zu tun mit Chancengerechtigkeit, mit Bildungsmöglichkeiten, Schule, Weiterbildung und mit Generationengerechtigkeit. Gerade weil wir einen gewissen Wohlstand erreicht haben, ist soziale Gerechtigkeit nicht mehr nur eine Verteilungsfrage. Beispielsweise haben wir beschlossen, wir geben sechs Milliarden Euro mehr aus für Forschung und Entwicklung. Wenn ich diese sechs Milliarden nähme und in die Rentenkasse gäbe - das wäre sehr populär. Aber ich mache das nicht, weil es falsch wäre. Ich muss das Geld investieren in die Köpfe der Enkelkinder.

STANDARD: Mit Kurt Beck steht an der Spitze der SPD ein Mann, dessen erste Reaktion auf die Erhöhung des Pensionsalters eine Wunschliste mit Ausnahmeregeln war. Bereuen Sie, dass Sie den Parteivorsitz abgegeben haben?

Müntefering: Nein, das war damals richtig. Beck ist der richtige, weil er nicht nur Traditionalist ist. Kurt Beck steht für eine fortschrittliche Politik, und zwar sehr erfolgreich. Dass er in einer anderen Funktion als ich stärker versucht, die Menschen auch mitzunehmen, während ich die Fahne voran schleppe, ist eine vernünftige Arbeitsteilung.

STANDARD: Warum kann die SPD von der sinkenden Arbeitslosigkeit nicht profitieren? Ihre Umfragewerte sind mies.

Müntefering: Man muss unterscheiden zwischen dem, was die Union an Zuspruch bekommt und was die Kanzlerin bekommt. Die Union als ganzes kommt aus dem Dreißiger-Turm genauso wenig raus wie wir. Aber bei der SPD gibt es sicher einen Frust, dass wir nicht im Kanzleramt sind. Und es fehlt es auch an Selbstbewusstsein, unsere Politik offensiv zu vertreten.

STANDARD: Es heißt in Berlin, Sie seien enttäuscht, weil Merkel zu zögerlich ist.

Müntefering: Es hat einige Fälle gegeben, wo sie eigentlich guten Willens war, aber die Union als Ganzes dann wieder Nein gesagt hat, weil die CSU nicht wollte. Da wird die Kanzlerin auf die Rolle der Parteivorsitzenden runter gedrückt. Das ist ein Problem in der Statik der Union. Das sehe ich, sage aber auch ganz klar: Die Einheit der Union ist nicht das höchste Gut, wenn man will, dass in Deutschland gute Politik gemacht wird.

STANDARD: Hält die ungeliebte große Koalition überhaupt bis 2009 durch?

Müntefering: Ja. Ich glaube, dass es gut ist für die politische Kultur in Deutschland, wenn die Politiker von CDU/CSU und SPD zeigen, dass sie erwachsen genug sind, um miteinander Politik zu gestalten. Wir müssen in diesem Herbst die Kräfte wieder bündeln. Diese Koalition hat das Potenzial, Probleme zu lösen.

STANDARD: Die SPD steht mit ihren Problemen nicht allein da. In Skandinavien mussten die Sozialdemokraten die Macht abgeben, in Frankreich verloren die Sozialisten die Wahl Haben Europas Sozialdemokraten nicht die richtigen Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts?

Müntefering: Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften haben sich nicht gut organisiert in den letzten 20 Jahren. Mit der Globalisierung und Europäisierung haben wir nicht Schritt gehalten. Die Globalisierung ist da, das Geld ist unterwegs, die Märkte sind offen aber die Sozialdemokratie ist unzureichend vernetzt. Das ist eine der großen Sorgen, die ich habe, dass wir das nicht schnell genug schaffen, nicht ausreichend Ideen entwickeln und unsere Lösungen nicht genug kenntlich machen können.

STANDARD: Was muss sich da noch ändern?

Müntefering: Der Kapitalismus hat sich verändert und wir müssen klarer, präziser werden in unserer Antwort darauf. Wenn die Chefs im 22. Stock mehr Geld kriegen während unten jeder Arbeiter für sich um seinen Arbeitsplatz kämpft - und das in vielen europäischen Ländern und zwar in Konkurrenz zueinander - dann zeigt das das ganze Dilemma, in dem wir uns befinden. Aber es zeigt vor allem auch, dass die internationale Sozialdemokratie gebraucht wird. Also mutig ran! (DER STANDARD, Printausgabe 10.7.2007)