Zur Person
Jan Schwab ist experimenteller Neurologe und Arzt an der Berliner Charité, am Institut für Hirnforschung in Tübingen und an der Harvard Medical School und ist wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Wings of Life.

Foto: Wings for Life
Der Neurologe sprach mit Marietta Türk über die schwierige Finanzierung dieses Forschungsbereiches, Stammzellen und realistische Ziele.

STANDARD: Über die funktionale Genesung von Querschnittlähmungen wird viel geforscht, Therapie gibt es nicht. Warum?

Schwab: Bisher forschte man in erster Linie an Ratten, man hat erst lernen müssen, klinische Studien bei rückenmarksverletzten Patienten durchzuführen. Zudem ist die Querschnittlähmung keine Volkserkrankung und für die Pharmaindustrie nicht attraktiv, die Forschung ist auf private Stiftungen angewiesen, hier startet derzeit Wings for Life.

STANDARD: Wie wird derzeit behandelt?

Schwab: Bislang unfallchirurgisch, die Rückenmarkstruktur ist bisher nicht Therapiegegenstand.

STANDARD: Welche Ziele hat sich die Forschung gesteckt?

Schwab: Das klinisch realistischste ist die Neuroprotektion, also das Verhindern der nachträglichen Schadensausweitung nach der Verletzung, durch Schwellung des Rückenmarks. Neurologische Funktionen könnten durch neuroprotektive Wirkstoffe gewonnen werden. Es gibt ja bereits Moleküle, sogar auf dem Markt befindliche Medikamente, die effektiv sein könnten, indem diese neuroprotektive Nebenwirkungen aufweisen wie das Dialysepräparat EPO oder das Antibiotikum Minozyklin. Nur sind diese für die Industrie oft nicht mehr neu patentierbar, was deren Interesse an teuren Studien bremst. Andererseits sollte man aber auch nach neuen Molekülen forschen.

STANDARD: Gibt es auch Hoffnung für jene, die bereits im Rollstuhl sitzen?

Schwab: Prinzipiell ja. Nach einer Rückenmarksverletzung gibt es oft noch intakte Nervenfasern, die aber keine Stromimpulse mehr leiten. Ziel eines neurorestaurativen Ansatzes ist es nun, diese Fasern durch Zelltransplantation oder pharmakologische Isolation wieder zum Funktionieren zu bringen. Große Studien haben hier jedoch enttäuschende Ergebnisse gezeigt, was aber auch am Studiendesign liegen kann.

STANDARD: Kann man beschädigte Nervenfasern reparieren?

Schwab: Tierversuche haben gezeigt, dass ein Aussprossen verletzter Nervenfasern im Sinne einer Neuroregeneration tatsächlich funktioniert. Unter normalen Bedingungen wird dies jedoch durch die Umgebung, also der Narbe und dem umgebenden "Nervenfett" Myelin, verhindert. Schaltet man die darin befindlichen molekularen Stoppschilder aus, wachsen die Fasern wieder. Das erste bekannte wurde "Nogo" getauft. Dazu läuft gerade eine internationale klinische Studie von Novartis, die Patienten aus ganz Europa rekrutiert. Das Schwierige neben dem Effektivitätsnachweis ist der Ausschluss unerwünschter Nebenwirkungen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Stammzellen bei der Neurorekonstruktion?

Schwab: Die Injektion von Stammzellen zur Überbrückung beschädigter Stellen ins Rückenmark impliziert die sehr naive Vorstellung, dass ein loses Zellkonglomerat die komplexe Zyto-Architektur des zentralen Nervensystems wieder herstellt. Dazu gibt es keine validen Studien, nur sporadische Heilversuche.

STANDARD: Gibt es Hoffnung auf Heilung?

Schwab: Ich denke, ein Funktionsgewinn ist durchaus realistisch für die Zukunft. Das ist nicht eine Frage ob, sondern eher wann es so weit sein wird. Hier besteht mittlerweile Konsens unter den Wissenschaftern. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.7.2007)