Salzburg - Wer hierzulande an indischen Tanz denkt, stellt sich üblicherweise nette Folklore zwischen Schlangenbeschwörung und der Bharatanatyam-Koryphäe Alarmél Valli vor. Die erste "moderne" indische Choreografin, Chandralekha, schaffte vor 25 Jahren den Absprung vom Tempeltanz-Klischee. Ihre Schülerin Padmini Chettur (37) legt, wie nun bei der Sommerszene in Salzburg zu sehen war, Maßstäbe vor, die für Indien unerhört und für Europa eine echte Herausforderung sind.

Aus europäischer Sicht können Chetturs Arbeiten in Bezug auf ihre Position innerhalb der indischen Tanzkultur nicht hoch genug eingeschätzt werden. Im Vergleich müssten Namen wie Trisha Brown und Yvonne Rainer bemüht werden, so radikal unterscheidet sich die in Chennai lebende Choreografin von beinahe allem, was in Indien sonst noch an Tanz entsteht. Die Sommerszene präsentierte zwei abendfüllende Stücke, Paper Doll (2005) und Pushed (2006), die auch im europäischen Kontext ihre Pionierhaftigkeit nicht verlieren. Sie erregt auch hier Aufmerksamkeit, weil ihre ästhetische und politische Position um einiges schärfer ist als etwa die der europäischen Tanz-Konzeptualisten. Mit diesen teilt sie die Erkenntnis, dass Kunst besser ins Gesellschaftliche greift, wenn sie sich in der Formulierung prinzipiell von den Konventionen des "Establishments" distanziert.

Extreme Langsamkeit

Charakteristisch für Chetturs Sprache ist die extreme Langsamkeit aller Bewegungen, der bewusste Verzicht auf männliche Tänzer, eine Festlegung - vor allem über das Kostüm - auf den indischen Kulturraum und eine Dekonstruktion des Bharatanatyam über Methoden aus dem westlichen Tanz. Ihr choreografischer Minimalismus ist in Paper Doll streng formalistisch angelegt, in Pushed werden erzählerische und atmosphärische Elemente mitformuliert.

Ihr Publikum trifft die Künstlerin dort, wo es noch empfindlich ist: Sie überschreitet die Grenze zu dem, was der französische Philosoph François Jullien (allerdings in Bezug auf die historische chinesische Kunst) das "Fade" nennt. Das ist der einzige Raum, den die Spektakelkultur in den darstellenden Künsten meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Im während beider Vorstellungen gut gefüllten Saal des Republic ernteten Chetturs Tänzerinnen Jubel und heftigen Applaus. Für ihre Präzision, ihre Kraft und Konsequenz, wohl auch für ihr feines Charisma und ihre faszinierende Präsenz. In Europa ist die Choreografin - langsam, aber doch - in ihrer Bedeutung erkannt, in Indien sorgt sie für heftige Kontroversen - wie seinerzeit Pina Bausch in Deutschland. (Helmut Ploebst /DER STANDARD, Printausgabe, 07./08.07.2007)