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Der Computerbildschirm als Fenster zur Welt: besonders für Jason Rowe, der an Muskeldystrophie leidet und durch seinen Avatar Speedbike fahren und Monster besiegen kann

Grafik: Archiv
Klar findet man in diesem Bilderberg auch Menschen wie Lucas Shaw, 22 Jahre alt, Student aus Texas. Er trägt unmodische Klamotten, dicke Brillengläser, wiegt mehr als 130 Kilogramm und hat es sicher nicht leicht auf dieser oberflächlichen Welt. In den Tiefen des Bildschirms aber, da ist Lucas flink und stark, steuert den Barbarenkrieger Gaenank durch das Online-Mittelalter-Universum "Everquest", schwingt die Axt, will, wie er sagt, "dass die Leute mich respektieren". Bis zu zwölf Stunden verbringt Lucas vor, oder besser im Computer, und mit seinem exzessivem Konsum, physischen Deformationen und der Weltfluchttendenz bilden Lucas und sein selbst entworfenes Alter Ego ein stereotypes Gegensatzpaar aus Welt/Weltnetz. Doch in Robbie Coopers Fotoband "Alter Ego" gibt es nicht nur Menschen wie Lucas, mehr als 100 Computerspieler und ihre digitalen Stellvertreter hat der britische Fotojournalist in den USA, Europa und Asien fotografiert. Untertitel des Langzeitprojekts: Avatare und ihre Schöpfer. Ein Mensch, zwei Körper. Manchmal ähneln die Spielfiguren den Spielern, manchmal sind sie ein paar Kilo leichter und manchmal ist die Sache ein bisschen komplizierter. Worte Das Wort Avatara bezeichnet im Hinduismus die körperliche Manifestation eines Gottes, bedeutet wörtlich "der Herabsteigende". Das sakrale Sanskrit-Wort ist seit dem Hype um "Second Life" Teil der Alltagssprache, hat nichts mehr mit der Götterwelt zu tun, mehr mit dem Menschen selbst. Legt man Coopers virtuelle und reale Fotografien übereinander, sieht man nicht nur Unterschiede, Verwandtschaften, sondern vor allem auch: Lust am Spiel, Humor, Selbstbewusstsein, Sehnsucht und Melancholie - zutiefst menschliche Eigenschaften im Zentrum der Techno-Welt. Online Laut einer Studie von Sony sind weltweit mehr als 70 Millionen Menschen in Multiplayer-Online-Rollenspielen aktiv, spielen Fabelwesen in "World of Warcraft" oder Superhelden und Außerirdische in "City of Heroes". Die Idee zu seinem Projekt hatte Cooper, als er einen Familienvater kennen lernte, der getrennt von seinen Kindern lebt und über ein Online-Universum mit ihnen kommunizierte. Was für ein Bild: ein Troll und zwei Zwerge, die sich über Schulnoten und die Sommerferien unterhalten. Cooper realisierte, dass Menschen in den Spielen nicht nur einen Highscore verfolgen, sondern soziale Kontakte und emotionale Potenziale. Coopers Frage ist einfach: Wer steckt hinter den Masken? Und warum hat er sie so konstruiert? Computerspiele als Techno-Karneval, in dem die Menschen jeden Tag eine neue Form annehmen können. Die Spieler bedienen sich beim Charakterdesign aus der Requisitenkammer der Popkultur: Fantasy-Wesen, Geishas, Krieger, Rockstars, Aliens und Superhelden. Ähnlichkeiten Jeremy Chase aus Kalifornien, Fan von "The Sopranos" und "The Godfather", entwirft einen Gangster, der im Second Life Morde und Erpressungen durchführt. Laura Katsumoto, eine 50-jährige Künstlerin aus Kalifornien, hat einen Avatar, der aussieht wie sie selbst. Elizabeth Brown spielt die Figur Leah, ähnliches Gesicht, Falten, silberne Haare, eine "ältere Version meiner Selbst", schreibt sie, "my own future goal". Idealisiert Einer Studie des amerikanischen Psychologen Nick Yee zufolge, betrachten knapp ein Drittel der Spieler ihre Online-Persönlichkeit als eine idealisierte Version ihrer Selbst und wollen mangelndes Sozialprestige und Unsicherheiten durch ein Über-Ich im Cyberspace ausgleichen. Die amerikanische Soziologin Sherry Turkle bezeichnet die Spiele hingegen "als Werkstätten zur Identitätskonstruktion". In Coopers Buch sieht man, dass die Motivation vielschichtig ist: Experiment, Rollenspiel, Ego-Remix. Potenzial Anfang der 1990er-Jahre glaubte man noch an das utopische Potenzial des elektronischen Raums, halluzinierte von Cyborgs und träumte von der Befreiung des Menschen im postbiologischen Jenseits. Im 21. Jahrhundert leben die Menschen wie im elektronischen Raum, aber sie tun es pragmatisch, unaufgeregt, selbstverständlich. Coopers Buch ist auch ein Who's Who der virtuellen Wirtschaftswelt: Philip Rosedale, der Vorstandsvorsitzende der Second-Life-Hersteller Linden Lab, Anshu Change, eine Frau, die mit virtuellen Immobilien zur Millionärin geworden ist, oder Lui Da, ein junger chinesischer Programmierer, der in einem "virtuellen Sweatshop" arbeitet und in stundenlangen Spielsessions die Figuren seiner reichen Kunden gestaltete. Cooper zeigt die Pioniere der Onlinewelt, für die der Avatar ein Instrument ist, mit dem man sich seinen Platz in der Welt erobert. Vergleiche Das binäre Prinzip von Cooper, die Gegenüberstellung von echten Menschen und falschem Bild, wirkt angesichts der Lebenswirklichkeit seiner Protagonisten fast ein wenig rückständig. "Technologically-mediated interaction is made out to be dehumanising and unnatural", sagte Cooper einmal der BBC. Dass es auch anders kommen kann, zeigt eines der beeindruckendsten Bilder des Buches: Jason Rowe leidet an Muskeldystrophie, ist auf einen Rollstuhl und sein Beatmungsgerät angewiesen. Im Onlinespiel "Star Wars Galaxies" spielt er einen Charakter, der an den Kopfgeldjäger Boba Fett aus den Filmen von George Lucas erinnert. "Der Computerbildschirm ist mein Fenster zur Welt", schreibt Jason. Hier kann er Monster besiegen, Speedbikes fahren "oder einfach einmal meine Hände benutzen." Mit silbrig glänzender Rüstung und futuristisch maskiertem Gesicht stellt die binäre Reflexion des Buben ein einziges Bild von Stärke dar. (Tobias Moorstedt / DER STANDARD RONDO, 29.06.2007)