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Benedict Anderson, international gefragter Nationalismus-Experte.

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Benedict Anderson meint, dass der Stolz auf die Nation auch trotz Globalisierung nicht verschwindet – und fern von der Heimat wird er zum Long-Distance-Nationalismus.

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STANDARD: Ihr Buch über den Nationalismus ist zum Klassiker, Ihre Definition der Nation als "imaginäre Gemeinschaft" zum geflügelten Wort geworden. Wie schätzen Sie die Globalisierung ein? Bedeutet sie nicht das Ende der Ära des Nationalismus?

Anderson: Das ist das, was viele Leute erhofften. Aber was tatsächlich geschieht, ist eher, dass der Nationalismus seine Form verändert. Es ist nicht mehr unbedingt nötig, dass man in dem Land lebt, an das man national gebunden ist. Wenn man anderswo lebt, ist es oft so, dass man nationalistischer wird als vorher. Ich glaube, dass der Wandel, den die Globalisierung hervorruft, ein Wandel im Charakter des Nationalismus ist.

STANDARD: Heißt das, heute findet man paradoxerweise Nationalismus vor allem bei Dia-spora-Gemeinschaften?

Anderson: Es gibt heute einen Long-Distance-Nationalismus jener Leute, die in anderen Ländern leben und sich selbst als nicht völlig akzeptierte Minderheit fühlen. Das versuchen sie oft zu kompensieren, durch den Stolz auf das Land, aus dem sie herkommen. Durch die Massenkommunikation ist das viel leichter geworden. Man kann "heimisches" Radio hören, DVDs sehen, telefonieren, mit billigen Flügen auf Besuch fahren usw. Sie bringen ein Bild ihres Herkunftslandes mit sich, das sie emotional oft mehr interessiert als das Land, in dem sie leben.

STANDARD: Wie funktionieren solche Diaspora-Gemeinschaften dann - durch Abschottung? Sind das geschlossene Gruppen?

Anderson: Es gibt sicher viele Fälle, wo das zutrifft. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich habe einen Freund in Australien, der Sikh ist. Er wurde aus der lokalen Sikh-Community ausgeschlossen, weil er weder langes Haar noch Turban trägt. Aber er sagt, wenn er nach Indien fährt, kümmert sich niemand darum. Dort hat er keine Probleme. Die Sikh-Community in Australien ist viel rigider, viel engstirniger als die ursprüngliche Sikh-Gemeinschaft in der Heimat. Das ist ein sehr gängiges Muster.

STANDARD: Sie haben geschrieben, Sie seien der Einzige, der über die Nation schreibt, ohne schlecht von ihr zu denken. Ist dieser Long-Distance-Nationalismus nun etwas, das sie begrüßen?

Anderson: Man muss zwischen Mehrheits- und Minderheitsnationalismus unterscheiden. Das Positive am Nationalismus ist: Du folgst den Gesetzen, weil es deine Gesetze sind. Du musst dazu nicht aufgefordert werden. Der Grund, warum du es tust, ist, dass du zu dieser Gemeinschaft gehörst und es deine Pflicht ist. Und das lässt sich natürlich viel schwerer aufrechterhalten, wenn jemand hunderte oder tausende Kilometer entfernt ist.

STANDARD: Und was kennzeichnet den Minderheitsnationalismus?

Anderson: Der entscheidende Unterschied ist die Abwesenheit von Verantwortung. Diese Leute wollen oft in ihren Herkunftsländern politisch partizipieren, aber sie müssen sich nicht an deren Gesetze halten, und sie müssen keine Steuern zahlen. Personen, die solche Long-Distance-Politik betreiben, müssen nicht die Verantwortung für deren Folgen übernehmen. Sie können glücklich anderswo sitzen und dies und jenes fordern. Und sie können manchmal einen Einfluss gewinnen, der etwas besorgniserregend ist.

STANDARD: Aber muss diese Diaspora-Situation notwendigerweise zu solch einer Radikalisierung führen?

Anderson: Nein, unter bestimmten Bedingungen kann es auch progressive Diaspora- Gemeinschaften geben.

STANDARD: In den Niederlanden überlegt man die Eröffnung islamischer Krankenhäuser. Ist das fortschrittlich oder nicht?

Anderson: Was soll das genau bedeuten? Heißt das, die Ärzte müssen Muslime sein oder nur die Patienten?

STANDARD: Es heißt, die Patienten werden nach islamischen Vorschriften behandelt, vor allem was das Geschlecht des gesamten Pflegepersonals betrifft.

Anderson: Das klingt nicht sehr gut. Aber auf der anderen Seite gab es etwa jüdische Spitäler in den USA, die nur für Juden bestimmt waren. Anfänglich waren sie sehr ausschließend, aber mit der Zeit wurden sie offener und integrierten sich mehr in die Gesellschaft. Ich glaube allgemein, die Leute haben die falsche Erwartung, dass solche Integrationen schnell stattfinden. Aber ich denke andererseits, dass es nicht möglich ist, an einem Ort wie etwa Deutschland zu leben, drei Generationen lang, und so zu bleiben, wie die Großeltern ursprünglich waren.

STANDARD: Warum nicht?

Anderson: Die Kraft der modernen Gesellschaft ist zu stark. Man sollte also diese Art von Spitälern nicht ablehnen. Es ist besser, flexibel zu sein und zu sagen: ,Wir werden sehen.' Ein Freund von mir, der kroatische Familien in Australien erforscht, zeigt, dass die alte Generation sehr rechts, sehr abgeschlossen und engstirnig ist, die Kinder aber, die australische Schulen besuchen, sehr zerrissen sind. Das erzeugt sehr oft einen Bruch in der Familie. Die Kinder wollen Australier sein, während die Alten nostalgisch von Ante Pavelic schwärmen. Das Drama spielt sich oft innerhalb der Familien ab. (Isolde Charim/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 6. 2007)