Helga Widder mit ihren beiden Therapiehunden. Widder ist Mitbegründerin und erste Obmann-Stellvertreterin des Vereins "Tiere als Therapie". Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren aktiv im Bereich tiergestützte Therapie und tiergestützte Fördermaßnahmen.

Foto: TAT
derStandard.at: Es gibt tiergestützte Therapie und tiergestützte Fördermaßnahmen, was ist der Unterschied?

Widder: Vor rund 30 Jahren hat sich die Delta-Society in den USA erstmals damit beschäftigt und diese Grundeinteilung getroffen und somit eine Variante zur Unterscheidung. Heute gibt es auch noch tiergestützte Pädagogik. Bei tiergestützter Therapie ist medizinisches oder therapeutisches Fachpersonal, zum Beispiel in einem Krankenhaus, dabei. Man muss ein Ziel formulieren, dokumentieren, evaluieren. Es gibt Auflagen, die eingehalten werden müssen.

Wenn ein Besuchsdienst zur Stimmungsaufhellung kommt, sich aber nicht so strikt an Vorgaben zu halten hat, dann sind es tiergestützte Fördermaßnahmen. Aber auch hier müssen Tier und Mensch gut vorbereitet sein. In jeder Institution kann es beides gleichzeitig geben. Wenn im Altenheim ein Arzt dabei ist und vorher genau definiert wurde, was bei einem bestimmten Menschen gefördert werden soll, dann ist es tiergestützte Therapie. Die Bereiche verwischen sich.

derStandard.at: In welchen Bereichen wird die Tiertherapie (und Fördermaßnahmen, Anm.) eingesetzt?

Widder: Bei so gut wie allen gesundheitlichen oder sozialen Problemen. Viele Studien haben gezeigt, dass besonders Menschen in schwierigen Situationen davon profitieren. Zum Beispiel in der Geriatrie, alte Menschen in Heimen, die mit zunehmenden Altersproblemen zu kämpfen haben. Ich besuche seit 20 Jahren Altenheime, habe aber auch in anderen Bereichen gearbeitet. Auch in der Pädagogik wird damit sehr gut gearbeitet, sei es, dass Kinder Scheidungen oder den Tod eines engen Menschen erlebt haben oder missbraucht wurden. Auch Menschen mit Drogen- oder Suchtproblemen können behandelt werden.

Der Vorteil: Das Tier nimmt mich so an, wie ich bin, ich kann ihm etwas anvertrauen. In ganz vielen Studien ist herausgekommen, dass dieses Angenommensein ohne negative Konsequenzen ein ganz wesentlicher Bereich ist. Für ein blindes Kind ist ein Blinden- oder Therapiehund auch eine Statusaufwertung. Das Kind fühlt sich sicherer, es ist kommunikativer.

derStandard.at: Wie ist der wissenschaftliche Wissensstand zu tiergestützten Therapien? Gibt es Studien, die die Erfolge belegen?

Widder: Es werden immer mehr, auch weil wir durch unseren Universitätslehrgang jährlich neue Studien dazu bekommen. Boris Levinson war ursprünglich der große Pionier in den 1960er Jahren. Er war Psychotherapeut und hat per Zufall entdeckt, welchen positiven Effekt die Begegnung eines Kindes, zu dem er keinen Zugang gefunden hatte, mit seinem Hund hatte. Auch Bergler, ein deutscher Psychologe hat sich sehr viel mit Kindern beschäftigt, die US-Wissenschafterin Erika Friedmann hat schon in den 1980ern bei einer Herzstudie festgestellt, dass Menschen mit einem Tier nach einem Herzinfarkt um das Fünffache mehr Überlebenschancen haben. Sie ist damals sehr angefeindet worden, Gegenstudien haben ihre Studie aber unterstützt.

Derzeit gibt es ein interessantes Projekt in einem Sonderkrankenhaus, wo genau das untersucht wird. Eine Alzheimerstudie auf der Baumgartner Höhe in Wien hat eindeutige Verbesserungen gezeigt. Menschen, die monatelang nicht mehr sinngebend gesprochen haben, formulierten wieder sinnvolle Sätze. Ein tolles Projekt ist momentan in Vorbereitung: in der Rudolfstiftung in Wien sollen ab Herbst 200 Patienten nach Herzerkrankungen ausgewählt und sechs Monate lang zuhause mit Tieren besucht werden. Das Ganze wird dann wissenschaftlich ausgewertet.

derStandard.at: Welche medizinischen Wirkungen sind dokumentiert?

Widder: Es ist erwiesen, dass die Therapie blutdrucksenkend und entspannend wirkt. Aber auch medikamenten-reduzierend, was auch finanziell zu bewerten ist. Bei Wachkomapatienten hat eine Hausarbeit eindeutige Reaktionen mit bemerkenswerten Ergebnissen nachgewiesen. Wir konnten außerdem beobachten, dass sich depressive Verstimmungen bessern.

Ein anderes Beispiel: Ich arbeite auch mit einem viereinhalb-jährigem Kind zusammen, das nicht spricht, autistische Züge hat. Es kann 'Nein' sagen. Einmal hat es zwei Worte zu einem Hund gesagt, daher hat ein Arzt tiergestützte Therapie empfohlen. Das Kind spricht inzwischen fünf Worte. Es ist grobmotorisch gut, aber feinmotorisch, mental und empathisch hat es Defizite. Es hat aber gelernt, dass man zum Beispiel mit einer Katze sehr feinfühlig umgehen muss, sonst geht sie weg, dass man aber mit einem Hund ein bisschen kumpelhafter umgehen kann.

derStandard.at: Welche Tiere eignen sich für welche Arten von Therapien?

Widder: Wir haben zu 90 Prozent Hunde, weil sie einfach sehr gut trainiert werden können. Von der zweiten bis zur zwölften Woche lernen die Hunde positive Verknüpfungen zu schaffen. In dieser wertvollen Sozialisationszeit müssen sie lernen, dass Menschen super sind. Es ist wichtig, dass sie Kinder kennen lernen, Frauen und Männer jeder Altersstufe und andere Tierarten und Rassen. Wir haben auch Katzen, denen muss man es mit viel Lob und Futter schmackhaft machen.

Mit bestem Erfolg haben wir auch Achatschnecken im Einsatz, das sind große, schöne Schnecken, die bei ADHS-Kindern eingesetzt werden. Sie brauchen eine Viertelstunde bis sie aus dem Schneckenhaus kommen. Die Kinder warten meist ruhig, bis sie aus dem Haus kommen. Aber auch Schildkröten, Hasen, Meerschweinchen, Lamas, Hühner werden eingesetzt, wenn sie geeignet sind.

derStandard.at: Welche Rolle spielen Pferde in der Tiertherapie?

Widder: Pferde haben einen ganz großen Stellenwert. Im Rahmen der Hippotherapie ist ein Teil auch schon von der Krankenkasse anerkannt. Da gibt es auch das heilpädagogische Voltigieren, das schon tief in die Köpfe der Menschen vorgedrungen ist. Dafür muss man aus einer bestimmten Berufsgruppe kommen, entweder aus der Sonder- und Heilpädagogik oder der Psychologie. Es gibt auch das Kuratorium für therapeutisches Reiten, das verschiedene Richtlinien und Standards aufgestellt hat.

Die Pferde haben diesen dreidimensionalen Gang, das wirkt sich bei Kindern gut auf die Wirbelsäule aus, zum Beispiel bei spastischen Defiziten und Problemen mit der Beweglichkeit des Rückens. Aber auch die Wärme und das Fell wirken wiederum auf der emotionalen Komponente. Wichtig ist auch die so genannte freie Begegnung: das Tier kommt freiwillig zu mir, das ist ein tolles Erlebnis und baut den Selbstwert auf.

derStandard.at: Wie ist die Anerkennung durch die Schulmedizin?

Widder: Wir haben das Berufsbild eingereicht, aber im Moment ist es noch nicht offiziell anerkannt. Es gibt durchaus auch Zuweisungen von Ärzten, aber eigentlich kommt es auf das Wohlwollen des jeweiligen Arztes an. Wir besuchen aber 150 Institutionen und haben eine Liste mit solchen, die wir im Moment nicht besuchen können, weil wir zu wenige Teams haben. Offensichtlich ist es bei den Leitungen dieser Institutionen so rüber gekommen, dass tiergestützte Therapie etwas Sinnvolles ist.

derStandard.at: Womit kämpfen Sie am meisten an kritischen Stimmen?

Widder: Hygiene ist natürlich ein großer Punkt und sehr wichtig. Wir haben einen Hygieneplan und strenge Auflagen. Das Tier muss gesund und geimpft sein, es gibt regelmäßige Kotuntersuchungen und Gesundheitschecks. Die Patienten müssen sich danach die Hände reinigen, die Tiere dürfen nicht in die Küche. Es sind relativ einfache, grundlegende Dinge, die im Hygieneplan drinnen stehen. Ein Beispiel: Eine junge Ärztin leitet unsere Zweigstelle in Slowenien. Sie arbeitet in der Leukämiestation, wo Kinder an der Chemotherapie hängen, daneben sitzt ein großer Berner Sennenhund. Und gerade bei diesen Kindern ist Hygiene oberstes Gebot.

Der zweite Kritikpunkt ist der Tierschutz: früher wurde oft kritisiert, dass die Tiere darunter leiden, dass sie zu Tode gestreichelt werden. Tierschutz ist uns aber ein ganz großes Anliegen. Wir wollen nicht, dass die Tiere instrumentalisiert werden. Wir gehen alle mit unseren eigenen Tieren und niemand ist daran interessiert, dass die Tiere krank gemacht werden. Das ist uns ganz wichtig. Deswegen ist auch ein großer Teil unserer Ausbildung, dass die Leute ihre Tiere lesen können, erkennen, wenn sie Signale aussenden, die auf Stress hindeuten. Wenn die Tiere nicht öfter als zwei, drei Mal in der Woche eingesetzt werden, bleiben sie im Rahmen.

derStandard.at: Wie stehen Sie zur Delfintherapie?

Widder: Ich stehe ihr sehr kritisch gegenüber. Erstens weil artgerechte Tierhaltung in einem Bassin nicht möglich ist. Es wird auch in Buchten angeboten, das wäre noch zu verantworten, aber wenn man Pech hat, kommen die Delfine gar nicht. Es geht hier um schwerst behinderte Kinder. Ganz oft vertragen sie den Klima- und Kostwechsel schwer. Es ist natürlich auch eine Geldfrage.

Meine Meinung ist: Wenn ich das richtige Setting habe, die Eltern sich Zeit nehmen und ich zum Beispiel ein Kaninchen oder einen Hund nehme und das Kind bleibt im gewohnten Umfeld, habe ich ganz bestimmt die gleichen Ergebnisse. (Marietta Türk, derStandard.at, 20.6.2007)