Markus Müller: "Es findet gerade ein Paradigmenwechsel statt. Neue Produkte sind für ganz bestimmte Patienten definiert, früher galt ein breites Wirkprinzip."

Foto: Matthias Cremer

Sidney Taurel: "Wenn wir sagen können, dass ein Medikament garantiert wirkt, wird es zu einer ethischen Frage, ob ein Patient einen Wirkstoff nicht bekommt."

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Wird Krebs heilbar und Alzheimer besiegt? Karin Pollack sprach mit Sidney Taurel, Präsident des US-Pharmakonzerns Eli Lilly, und Markus Müller, Vorstand der Pharmakologie an der Med-Uni Wien, über die Innovationsdynamik in der Arzneimittelentwicklung.

STANDARD: Medikamentenentwicklung wird immer teurer, die Gesundheitssysteme ringen um eine Finanzierung. Wie reagiert die Pharma-Industrie?

Taurel: Es stimmt, dass die Bedingungen härter werden. Aber die gesamte Branche arbeitet daran, die Kosten für Medikamentenentwicklung zu senken. Molekulare und genetische Technologien sind extrem wichtig, sie werden Therapien viel spezifischer machen als bisher. Zudem geht es uns darum, in einem möglichst frühen Stadium der Wirkstoffentwicklung Fehlerpotenziale zu identifizieren, denn nichts ist kostspieliger als ein Medikament, das sich in der klinischen Testphase befindet, zurückzuziehen. Wir von Eli Lilly haben eine klare Strategie. Wir investieren 20 Prozent unseres Umsatzes in die Forschung und haben es geschafft, wider den Strom zu schwimmen, in den vergangenen sechs Jahren haben wir sieben neue Medikamente auf den Markt gebracht.

Müller: "Theragnostics" spielt eine wichtige Rolle. Konkret werden mithilfe von molekularen und genetischen Methoden - etwa Biomarkern - Therapien viel zielgenauer gegen eine Erkrankung gerichtet sein. Heute bekommen die meisten Patienten mit einer bestimmten Diagnose ein Medikament. In Zukunft wird man über Biomarker testen, ob ein Medikament im individuellen Fall auch wirken wird.

Taurel: Ein Medikament wirkt durchschnittlich nur bei 50 Prozent der Patienten, bei Blutfettsenkern liegt es bei 80, bei Krebs bei 20 Prozent. Wenn es also nur bei 50 Prozent der Patienten wirkt, dann ist es für die anderen umsonst, also rausgeschmissenes Geld. Das wollen wir ändern, müssen aber erst Tests entwickeln, die zu Medikamenten mitgeliefert werden.

STANDARD: Also weg vom Gießkannenprinzip, ist das nicht auch das Ende für große Blockbuster-Medikamente?

Taurel: Eigentlich ja, allerdings würde ich die Strategie als weg von "one size fits all" hin zu maßgeschneiderter Therapie beschreiben. Ein Beispiel: Xigris ist ein sehr hochpreisiges Medikament, das bei Sepsis zum Einsatz kommt. Es hat Nebenwirkungen. Aber man weiß, dass es in 20 bis 40 Prozent hilft und nur dann wirkt, wenn Protein C im Körper vorhanden ist. Wir wollen das messbar machen. Wenn wir sagen können, dass etwas garantiert wirkt, wird es zu einer ethischen Frage werden, ob einem Patienten ein Wirkstoff nicht gegeben wird, obwohl er Leben rettet. Das eröffnet neue Perspektiven.

STANDARD: Wie individuell wird Therapie sein?

Müller: Individuell stimmt nicht ganz, ich würde eher von zielgerichtet sprechen, diagnostische Spezifizierung ist so wie heute beim Brustkrebsmedikament Herceptin Voraussetzung. Der Hintergrund für viele neue Entwicklungen ist das entschlüsselte menschliche Genom, das Vorhersagen über Wirkungen und Nebenwirkungen erlaubt.

STANDARD: Man könnte das also schon bei der Geburt testen?

Müller: Es gibt Schätzungen, denen zufolge für etwa 20 Prozent aller Medikamente durch einen genetischen Test Vorhersagen über die Wirksamkeit gemacht werden könnten.

Bei gewissen Formen von Leukämie im Kindesalter hat sich dieses Konzept bereits bewährt, weil eine schwer wiegende Medikamentennebenwirkung an eine genetische Variante in einem Enzym gekoppelt ist, die man vor Gabe der Therapie untersuchen kann. Heute sind es wenige Erkrankungen, für die solche Vorhersagen möglich sind. Generell findet aber gerade ein Paradigmenwechsel statt: Neue Produkte sind immer für ganz bestimmte Patientenkreise definiert, die Produkte der vergangenen Dekade hatten ein breites Wirkprinzip.

Taurel: Krebs, Alzheimer oder auch kardiovaskuläre Erkrankungen sind hochkomplex und hängen mit vielen Funktionen im Körper zusammen. Eli Lilly beschäftigt sich mit Alzheimer, einer Erkrankung, die wahrscheinlich, lange bevor es zu Symptomen kommt, schon vorhanden ist. Beta-Amyloid-Plaque ist ein Indikator, der per Gehirnscan ermittelt werden kann. In Zukunft wird man Alzheimer also lange vor Ausbruch behandeln können.

STANDARD: Arbeiten Pharmafirmen bei der Erforschung des Genoms zusammen?

Taurel: Das tun wir bei der Entdeckung von Biomarkern, einem Bereich, der der Medikamentenentwicklung vorgelagert ist. Danach geht jeder eigene Wege.

STANDARD: Sind da Universitäten eingebunden?

Müller: Nicht bei der Medikamententwicklung. Universitäten bilden Talente aus und schaffen ein kreatives Umfeld. Cluster, in denen Industrie und Universitäten zusammenarbeiten, sind sehr produktiv.

Taurel: Es ist ein Kontinuum, Universitäten liefern die Grundlagen, die Industrie betreibt angewandte Forschung.

STANDARD: Engagiert sich Eli Lilly auch im wenig lukrativen Bereich der seltenen Erkrankungen?

Taurel: Wir erforschen seltene Arten von Leberkrebs, Melanomen, Multipler Sklerose und Muskeldystrophie, beschäftigen uns aber auch mit Infektionskrankheiten wie dem Milzbrand, dem West-Nil-Virus oder der Zystischen Fibrose.

Müller: Es ist natürlich immer auch eine Definitionsfrage. Was ist eine seltene Erkrankung? "Orphan Drugs", eine andere Bezeichnung für diese Art von Medikamenten, werden, was ihre Entwicklung betrifft, durch verschiedene Maßnahmen unterstützt. Aber: Auch eine Krebserkrankung ließe sich so betrachten. Es gibt Subgruppen von häufigen Krebserkrankungen, die als Subgruppe betrachtet selten sind.

Taurel: Wir haben ein Medikament gegen das Mesotheliom, eine sehr seltene Krebserkrankung des Lungenfells, entwickelt. Die Frage, ob das Mesotheliom selten ist, stand niemals im Vordergrund. Dann hat es sich auch für andere Formen von Krebs als sehr effektiv herausgestellt. So war eine Dynamik.

STANDARD: Wo erwarten Sie große Fortschritte?

Taurel: Bei Krebs, er wird zu einer Art chronischen Erkrankung werden. Kurz vor einem Durchbruch stehen wir bei Alzheimer, aber auch die Behandlung von kardiovaskulären Erkrankungen ist viel versprechend.

Müller: Krebs, Diabetes und Alzheimer, das sind zukünftige Herausforderungen der industrialisierten Welt. Betrachtet man die Kosten für Medikamentenentwicklung global, werden aber 90 Prozent davon für die Behandlung von Krankheiten ausgegeben, die weniger als zehn Prozent der verlorenen Lebensjahre ausmachen. In der dritten Welt steht man vor ganz anderen Problemen, da müssen Stiftungen wie die von Bill und Melinda Gates helfen.

Taurel: Viele Krankheiten der Dritten Welt könnten mit existierenden Medikamenten behandelt werden. Wir arbeiten mit der WHO oder "Ärzte ohne Grenzen" zusammen. Zudem haben wir ein Projekt zur Erforschung der multiresistenten Tuberkulose mit über 50 Partnerländern im Umfang von 70 Millionen Dollar und arbeiten mit Generika-Herstellern, denen wir unser Wissen zur Verfügung stellen. All das sind aber philantrope Aktionen, doch es geht ja auch darum, Geld zu verdienen, um es in die Forschung zu investieren, denn nur so ist Fortschritt auch weiter hin gewährleistet.

STANDARD: Lässt sich Fortschritt tatsächlich planen?

Taurel: Innovation ist das Ausschließen von Fehlern. Aus 5000 Produkten in der Entwicklung schafft es durchschnittlich nur eines auf den Markt. Das läuft nach Plan.

STANDARD: Gibt es da überhaupt noch Raum für Zufälle?

Taurel: Ja. Ein Beispiel: Wir haben ein Antidepressivum entwickelt, das sich auch als hochwirksam in der Behandlung von ADHS, dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, herausgestellt hat. Oft geht es auch um Dosierungen.

Müller: Es gibt derzeit ein kaum überschaubares Innovationspotenzial. Das Genom besitzt zirka 30.000 Gene, von denen nur etwa 500 als Targets therapeutisch genutzt werden. Insgesamt schätzt man, dass es bis zu 10.000 "druggable targets" geben könnte. Sie alle müssen entdeckt werden.

Taurel: Und das sollten auch Gesellschaft und Politik wissen, denn für die Forschung brauchen wir Unterstützung. Das Potenzial ist groß, der Bedarf ist auch da, aber wir brauchen ein Umfeld, das Innovation belohnt. Das heißt: Neue Produkte und Verfahren müssen durch Patente geschützt werden, auch eine entsprechende Preispolitik ist wichtig.

STANDARD: Wie lange werden Menschen zukünftig leben?

Müller: Die Lebenserwartung steigt. Es geht aber weniger um die Frage, wie alt man wird, denn der Tod wird immer eine Konstante bleiben, sondern wie sich unsere Gesellschaft darauf einstellt, möglichst gesund alt zu werden.

Taurel: Biologisch könnten wir wesentlich länger leben, wenn Krankheiten nicht wären, sagen Wissenschafter. Aber Altwerden wird oft als Problem gesehen, das Kosten verursacht. Es gibt ein Gegenargument: Produktivität. Durch die sinkenden Geburtenraten verlieren die Industrienationen Arbeitskraft, durch den medizinischen Fortschritt bleiben wir aber länger gesund und leistungsfähig und werden deshalb auch länger arbeiten können. Damit lässt sich viel verändern. Die große Frage ist, ob die Menschen das auch tatsächlich wollen. (Karin Pollack/MEDSTANDARD/11.06.2007)