Als die Götter sich herabließen, die begehrten Damen nach Kreta zu verschiffen: Zeus mit Europa.

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Ein spielendes Phöniziermädchen - eben die holde "Europa" - fiel einer Tarnungsoperation des Göttervaters zum Opfer. Auf seinem breiten Rücken wurde die Arg- und Ahnungslose nach Kreta verschifft. Dort verwandelte sich Zeus prompt in jenen triebgesteuerten Blitzeschleuderer zurück, der Halbgötter und Hybride zuhauf zeugte.

Zeus' Amouren taugen wenig dazu, das Zutrauen zur göttlichen Allmacht zu befestigen. Seinen Favoritinnen begegnete er aus zarter Rücksichtnahme auf sein zänkisches Eheweib zumeist in Tier- oder Pflanzengestalt. Die Vermengung seines Erbguts mit dem ausgesuchter Sterblicher hat das Vertrauen in die menschliche Tatkraft zweifellos befestigen geholfen. Es liegt aber auch ein fauler Zauber in den Machinationen der launischen Götter. Die Sterblichen wurden von den Allmächtigen um die Liebe beneidet - und um das Todesprivileg. Nichts schreckt mehr als der Gedanke an die sinnlose Muße eines vom Aufschub gekennzeichneten Lebens.

Das sterbliche Europa - das Konglomerat jener Zeus' Lenden entsprossenen Brut - hat durch die Wechselfälle seiner nicht durchwegs erfreulichen Kontinentalgeschichte eine Kultur angesammelt, deren Zeugnisse für umso wichtiger gelten, als sie den Dialog mit den Ahnen, mit den "teuren Toten", sicherstellen. Die Güte jeder Kultur, äußerte der sächsische Jahrhundertdramatiker Heiner Müller einmal sinngemäß, beweise sich im Umgang mit den Toten. Ihrer Hinterlassenschaft müsse unermüdlich abgelauscht werden, was die Vorausgegangenen an überschüssigen Hoffnungen gehegt haben. Die vor unserer Zeit Gestorbenen müssen "freigeben", was sie eifersüchtig vor dem Zugriff der Kinder und Kindeskinder abgekapselt und aufbewahrt haben.

Darin liegt für jeden Kulturbetrieb freilich auch der springende Punkt: Keine Aneignungsleistung versteht sich, ganz konträr zum phäakischen Behagen an der viel gerühmten "Werktreue", von selbst. Jede "Renaissance" zehrte von der Unbekümmertheit, mit der die jeweiligen Selbstermächtiger den Trödel der Urahnen auf- und auslasen, um ihn neuerlich nützlich zu machen und lustvoll in Gebrauch zu nehmen.

"Fremdheit" scheint denn auch viel eher ein Schlüsselwort zur Erfassung eines Europa-Begriffs, der viel zu oft und viel zu voreilig als Besitzstand ausgegeben wird, noch ehe er "besessen" wird.

Das zu sich selbst kommende Europa der neuzeitlichen Vernunft hat aus der Maßstabssetzung seiner selbst ein zwieschlächtiges Konzept entwickelt: Es hat den abendländischen Vernunftgebrauch dazu benützt, das Bild vom allseits mündigen Menschen zum Muster des Umgangs miteinander zu erheben.

Tatsächlich erzeugt die Besinnung auf die Vernunft in ihren besten Augenblicken einen Wettstreit der Argumente, der die handfeste Austragung von Konflikten durch die Wonnen einer möglichst kunstvoll angeleiteten Kommunikation ersetzt. Wer daher heute die technokratische, wenig ansehnliche Verwaltung Europas durch Brüssel beklagt, die Bestimmung von Krümmungswinkeln belächelt, denen Gurken und Bananen zu genügen hätten, übersieht leicht die Kunstfertigkeit eines Getriebes, das die Menschen ein Stück weit von den Zumutungen des Daseins entlastet.

Auf der anderen Seite haben die Europäer, vor rund 500 Jahren zur Mündigkeit erwacht, ein verständliches Fernweh entwickelt. Die Verabsolutierung eigener Maßstäbe hat unermessliches Leid über andere Weltzonen gebracht. Wie viele "Konquistadoren" haben Zeus' umwegige Annäherung an die mythische Europa durch das Verhalten wüster Marodeure und Vergewaltiger ersetzt! Die Pointe liegt demgemäß in der Umkehrbewegung: Der Zuzug der Erniedrigten und der vom Reichtum Ausgeschlossenen verweist Europas Kinder sehr nachdrücklich auf ihre Pflicht, alle Menschenkinder an den eigenen Maßstäben zu messen. Denn der Himmel der Götter ist leer. (Ronald Pohl, DER STANDARD, Printausgabe, 08.06.2007)