Im Rahmen des Projekts Lesen verleiht Flügel war es eine der Aufgabenstellungen für die teilnehmenden Mädchen, "Orte von lesenden Frauen" zu dokumentieren.
Foto: Iman und Selma
Auch Unterschiede in weiblichem und männlichen Leseverhalten ...
Foto: Iman und Selma
... Rollenbilder für Frauen mit Migrationshintergrund ...
Foto: Iman und Selma
... und die eigene Lesebiografie der Schülerinnen waren Themen der Auseinandersetzung.
Foto: Iman und Selma
Irreführung: Müllplätze gehören nicht zu den Lieblings-Leseorten der Mädchen - sie bevorzugen im Winter den Platz vor der Heizung und im Sommer den Balkon.
Foto: Iman und Selma

Von Omas, die nicht lesen können, über Mütter, die in der Türkei hauptsächlich auf den Feldern arbeiteten, zu den wissbegierigen, fleißigen Mädchen, die in Österreich aufgewachsen sind, ist es ein langer Weg. Ein Schulprojekt untersuchte weibliches Leseverhalten in drei Generationen. Von Kerstin Kellermann.

Es geht rund in dieser Schule: Auf den Treppen schwirren überall eifrige Mädchen auf und ab, die lächeln, sich unterhalten und freundlich mit "Grüß Gott" grüßen. Die leuchtenden Farben und glänzenden Stoffe ihrer Kleidung und Kopftücher machen das graue Treppenhaus lebendig. Im Hof sitzen sie auf der weißen Treppe zum Dach des Nebengebäudes in der Sonne. Oben auf dem flachen, weißen Dach gibt es hölzerne Sitzbänke. Heute wird in der Islamischen Fachschule für Soziale Bildung das Projekt "Lesen verleiht Flügel" vorgestellt. Zwei Klassen von anderen Schulen sind zu Besuch gekommen, die Burschen mit langen Haaren und Heavy Metal T-Shirts wirken zum Teil etwas eingeschüchtert.

"Meine Mutter und meine Großmutter können nicht lesen. Wenn meine Mutter eine Zeitung sieht, nimmt sie sie, blättert sie durch und schaut die Bilder an. 'Es ist peinlich', sagt sie, 'nicht lesen zu können'", liest ein Mädchen ihren Text vor. Eine andere schildert, wie ihre Mutter mit 25 Jahren Lesen lernte: "Später hat sie gemeint, dass das Lesen kein Alter hat. Deshalb begann sie einen Kurs zu besuchen. Auch wenn sie nicht so gut und schnell lesen kann, kann sie nun lesen." Oben im Vortragsaal präsentieren die Jugendlichen äußerst selbstbewusst ihre Untersuchungen zum Thema Lesen. Unterschiede in weiblichem und männlichen Leseverhalten, Rollenbilder für Frauen mit Migrationshintergrund und die eigene Lesebiografie der Schülerinnen waren Themen der Auseinandersetzung. "Orte von lesenden Frauen" heraus zu finden und zu fotografieren war eine Aufgabe (siehe Fotos). Es geht auch viel ums Vorlesen in der Kindheit: "Leider hat mir niemand etwas vorgelesen. Meine Großeltern waren Analphabeten. Aber mein Großvater hatte vor 60 Jahren, als er beim Militär war, arabische Buchstaben gelernt. Doch sobald ich lesen konnte, habe ich für ihn immer Zeitungen vorgelesen. Mein Vater war in Österreich und meine Mutter sagt, dass sie keine Zeit zum Vorlesen gehabt hatte." "Meine Mutter hat viel gearbeitet und meine Oma konnte nicht lesen. Mein Opa las mir Nasreddin Hoca oder Keloglan vor. Mir gefiel am meisten Schneewittchen, weil sie mit sieben lustigen Zwergen zusammen gelebt hat und weil ein Prinz sie geküsst hat", schreibt eine andere. Wichtig war für Neslihan aus der Klasse 2a zum Beispiel die Geschichte der "Zimperlichen Prinzessin/Korkulu Prenses", die reiten und schwimmen lernt und "mit den Jagdhunden um die Wette über das weite Feld springt. Und somit ihr zimperliches Benehmen besiegt." Fazit: "Ich lernte daraus, dass man schon als kleines Kind mutig sein sollte. Ich betrachtete die Prinzessin als ein Vorbild. Für mich war sie wie eine Heldin!" Viele Mütter der Mädchen, die aus der Türkei stammen, mussten schon früh Feldarbeit machen und ihre kleinen Geschwister groß ziehen und konnten nicht in die Schule gehen.

Lesen überall

"Ich habe den 25. September schon seit Jahren zum Tag der Beschimpfung der deutschen Sprache erklärt", liest ein Mädchen mit Brille und schwarzem Kopftuch aus Osman Engins Buch "West – östliches Sofa" vor. "Diese ganzen Artikel, wer das erfunden hat, hat ganze Generationen von Einwanderern ins Unglück gestürzt." Die Jugendlichen lachen. Sükran liest gerne Liebesromane, denn: "Mit diesen Büchern kann man Problemen vorbeugen. Sie lehren mich über die Liebe, da die Menschen am meisten Hilfe in der Sache Liebe brauchen. Außerdem kann ich nicht zu einem Erwachsenen gehen und fragen, was Liebe ist." Wichtig für die Mädchen ist auch das Medium Internet, in dem sie Zeitschriften und Nachrichten aus anderen Ländern lesen können oder sich über die Chatseite Messenger mit ihren Freundinnen unterhalten. Ein bosnisches Mädchen verfolgt zum Beispiel auf der Internetseite www.jezerski.net, was es so alles in ihrer Heimatstadt Neues gibt, sie lädt sich auch Gedichte herunter. Eine andere besucht in Ägypten Büchereien und schaut nach, welche deutschen Bücher es gibt. In Österreich liest sie auch SMS aus Ägypten. Frauen lesen mehr als Männer, meinen die Mädchen. Unten beim Buffett im ersten Stock hängt eine Collage mit dem Titel "Die Zukunft ist weiblich" an der Wand, auf der die Mädchen ihre Rolle als junge Frauen untersuchten. "Was meine Eltern von mir wollen", steht da notiert: bis 25 heiraten, einen sicheren Job, keine Beziehung vor der Ehe, keine schlechten Gewohnheiten und "abends zu Hause sein". Und die andere Seite: "Was ich will: Karriere, noch mehr Freizeit, Unabhängig von Männern sein, Geld, Schönheit und Ausbildung".

Lieblingsorte zum Lesen sind für die Mädchen im Winter der Platz vor der Heizung und im Sommer der Balkon. "Im Herbst, wenn der Wind weht und die Blätter abfallen, da liege ich auf der Wiese und lese, da kann mich keiner vom Fleck rühren, das gefällt mir wahnsinnig", schreibt Merve aus der 3a. Hasret beobachtet durch das Fenster ihrer Wohnung ein Mädchen, das jeden Morgen in ihren Hof kommt und vor der Schule in einem Buch liest. "Ich finde das interessant, weil ich würde nicht in der Früh ein Buch lesen. Fast jeden Tag kommt das Mädchen, sie sitzt und liest etwas von ihrem Buch, auch wenn es draußen kalt ist."