Der Hirsch ist demnach ein heiliges, edles Tier.
Durfte das einfache Volk ihn deshalb nicht jagen?
Girtler: Bis in das neunte Jahrhundert
hatte jeder freie Bauer das Recht der Jagd –
nach germanischem Recht. Dann wurde das
römische Recht übernommen, nach Karl
dem Großen. Der König wurde Eigentümer
des Waldes, jenes Gebietes, das früher allen
gehört hat. Die Jagd als vornehme Sache
wollten die Hocharistokraten nur für sich.
Dem Bauern wurde verboten, den Wald zu
betreten, er wurde immer mehr abhängig
gemacht. Bei den großen Bauernkriegen
geht’s letztendlich um die Jagd. 1525 in
Memmingen war das erste Mal, dass Forderungen
gegen die Aristokratie formuliert
wurden. Von den zwölf Punkten beziehen
sich vier auf den Wald. Der evangelische
Theologe und Revolutionär Thomas Müntzer
sagte damals auch, dass Gott allen das
Recht zur Jagd gegeben hat. Er wurde schließlich
hingerichtet.
Was macht die Jagd selbst so besonders? Worauf
ist das zurückzuführen?
Girtler: Das geht bis in die Antike
zurück. Schon Horaz hat die Wichtigkeit
der Jagd hervorgehoben: „Die Jagd macht
auch den noblen Menschen aus.“ So ähnlich
hat er es formuliert.
Finden sich auch konkrete Hinweise auf Hirsch
und Jagd in anderen Quellen?
Girtler: Wir haben im Lateinunterricht
„De Bello Gallico“ von Julius Cäsar gelesen.
Da gibt’s die Geschichte, wie Cäsar die
Germanen fragt, wie sie Hirsche jagen.
Darauf bekam er zur Antwort, dass der Elch
– das kann man auch mit Hirsch übersetzen
– das bei Weitem schönste Tier sei. Dieser
habe aber keine Kniegelenke, deshalb lehne
er sich an einen Baum, um zu schlafen. Denn
wenn er sich hinlegt, kann er, wegen der fehlenden
Kniegelenke, nicht mehr aufstehen.
Also sagten die Germanen zu Cäsar: „Wir
sägen einfach den Baum an. Und wenn sich
das Tier dann an den Baum lehnt, fällt dieser
um, und der Elch ist wehrlos.“ Das ist der
erste literarische Hinweis auf Jägerlatein.
Das ist eine witzige Geschichte.
Girtler: Ja, Cäsar ist voll drauf reingefallen.
Daran merkt man auch schon die
Bedeutung des Hirsches. Allein das Geweih
galt und gilt als wertvolle Trophäe. Damit
kann man auf den Tisch hauen. Den Wilderern
war die Trophäe ja nicht so wichtig.
Aus welchen Gründen machten die Wilderer dann
Jagd auf ihn?
Girtler: Es ging ums Essen. Die Trophäe
konnte der Wildschütz sowieso nicht aufhängen,
das wäre ja ein Beweis für seine
Taten gewesen. Mir hat ein Wilderer erzählt,
dass ihn nach dem Zweiten Weltkrieg
immer wieder ein Gendarm besucht hat, um
nachzusehen, was er so aufgehängt hat. Für
einen Aristokraten war das natürlich etwas
anderes. Die herrschaftlichen Jagdhäuser
waren voll mit Hirsch- und Gamsgeweihen.
Das Wilderermuseum in St. Pankraz in
Oberösterreich hat den schönen Untertitel
„Die Erweiterung der Kaiservilla“. So
haben sich die kleinen Leute dem Kaiser
gleichgestellt.
Hat der Hirsch heute noch die gleiche Bedeutung
wie damals?
Girtler: Sicher. Beim Hirsch ist die
Trophäe wichtig, weniger das Fleisch. Den
Wilderern war das Fleisch nicht egal, sie
waren Fleischjäger. Man muss unterscheiden
zwischen Fleisch- und Trophäenjäger.
Die meisten Jäger sind heute vor allem Trophäenjäger.
Je mehr Enden das Geweih hat,
desto besser. Das geht zurück bis in die Antike.
Es ist eine alte Kultur damit verbunden.
Es gibt ja auch eine Unmenge an Wilderersagen,
in denen der Hirsch eine große Rolle spielt.
Girtler: Ein Hirsch ist eben etwas
Besonderes, etwas Achtenswertes. In vielen
Kulturen war auch der Respekt vor dem Tier
wichtig. Man erlegt das Tier, aber man achtet
es auch. Deshalb gibt es die Theorie von
mir: Die Wilderer waren die Ersten, die
weidmännisch schießen mussten, also so,
dass das Tier im Feuer fällt. Sie hatten keine
Zeit, dem verletzten Tier nachzujagen. Ein
guter Wilderer geht ja nicht mit dem Hund.
Ein guter Wilderer, so wie der Herr Rudi
(Kellner im Café, in dem das Interview stattfindet,
und der gerade vorbeikommt), der
konnte es sich nicht leisten danebenzuschießen.
Herr Rudi: Mein Vater und mein Großvater
haben gewildert, ich nicht mehr.
Girtler: Wir reden gerade darüber, dass
ein Wilderer gut schießen musste.
Herr Rudi: Sicher, der erste Schuss musste
sitzen.
Girtler: Die waren die Ersten, die weidmännisch
gejagt haben, später wurde das
von den regulären Jägern übernommen. Die
Hocharistokratie hat Treibjagden betrieben.
Angeblich war Erzherzog Johann der Erste,
der weidmännisch geschossen hat. Dort, wo
man schwer hinkam, das war interessant,
die Gams oder eben das hoheitliche Tier, der
Hirsch. Das Rehwild war mehr zum Essen,
auch heute noch.
Die Wilderer wurden von der Obrigkeit offenbar
gehasst. Wie war ihr Status in der normalen Bevölkerung?
Girtler: Der Wilderer war der Held der
kleinen Leute. Deshalb sind diese Wildererfilme
auch immer sehr gut angekommen
in der Bevölkerung. Das ärgert die
Jäger auch immer so. Ein Wilderer war oft
ein Bauernbursch, der einerseits wegen des
Fleisches und andererseits wegen des Flurschadens
gejagt hat. Das waren schnittige
Gesellen und sehr beliebt – solange sie anständig
waren. Ein guter Wilderer hat sich
auch an gewisse Regeln gehalten. Zum Beispiel
war das Schlingenlegen verpönt.
Wie kommt es, dass „Hirsch“ auch oft als
Schimpfwort gebraucht wird?
Girtler: Das ist eine gute Frage.
Darüber sollte man sich auch einmal Gedanken
machen.