Soziologe mit Geweih: Universitätsprofessor Roland Girtler erklärt die besondere Bedeutung des Hirsches für Jäger, Wilderer und die Kultur im Allgemeinen.

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Was macht den Hirsch für Jäger und Wilderer so bedeutungsvoll? Roland Girtler: Der Hirsch ist ein majestätisches Tier. Er wurde schon immer mit Göttern in Verbindung gebracht, etwa mit Artemis oder Diana. Auch im katholischen Glauben ist der Hirsch zu finden, beispielsweise beim Heiligen Hubertus. Die Katholiken haben schließlich die alten Götter in Form von Heiligen in ihren Glauben übernommen. Sie glauben sozusagen noch an Artemis und Diana – nur eben in anderer Form. Die echten Wildschützen zeigen in ihren Liedern, dass sie drei Tiere für wichtig erachten: die Gams, den Hirsch und den Rehbock. Diese Tiere werden auch mit Noblesse verbunden.

Der Hirsch ist demnach ein heiliges, edles Tier. Durfte das einfache Volk ihn deshalb nicht jagen?
Girtler: Bis in das neunte Jahrhundert hatte jeder freie Bauer das Recht der Jagd – nach germanischem Recht. Dann wurde das römische Recht übernommen, nach Karl dem Großen. Der König wurde Eigentümer des Waldes, jenes Gebietes, das früher allen gehört hat. Die Jagd als vornehme Sache wollten die Hocharistokraten nur für sich. Dem Bauern wurde verboten, den Wald zu betreten, er wurde immer mehr abhängig gemacht. Bei den großen Bauernkriegen geht’s letztendlich um die Jagd. 1525 in Memmingen war das erste Mal, dass Forderungen gegen die Aristokratie formuliert wurden. Von den zwölf Punkten beziehen sich vier auf den Wald. Der evangelische Theologe und Revolutionär Thomas Müntzer sagte damals auch, dass Gott allen das Recht zur Jagd gegeben hat. Er wurde schließlich hingerichtet.

Was macht die Jagd selbst so besonders? Worauf ist das zurückzuführen?
Girtler: Das geht bis in die Antike zurück. Schon Horaz hat die Wichtigkeit der Jagd hervorgehoben: „Die Jagd macht auch den noblen Menschen aus.“ So ähnlich hat er es formuliert.

Finden sich auch konkrete Hinweise auf Hirsch und Jagd in anderen Quellen?
Girtler: Wir haben im Lateinunterricht „De Bello Gallico“ von Julius Cäsar gelesen. Da gibt’s die Geschichte, wie Cäsar die Germanen fragt, wie sie Hirsche jagen. Darauf bekam er zur Antwort, dass der Elch – das kann man auch mit Hirsch übersetzen – das bei Weitem schönste Tier sei. Dieser habe aber keine Kniegelenke, deshalb lehne er sich an einen Baum, um zu schlafen. Denn wenn er sich hinlegt, kann er, wegen der fehlenden Kniegelenke, nicht mehr aufstehen. Also sagten die Germanen zu Cäsar: „Wir sägen einfach den Baum an. Und wenn sich das Tier dann an den Baum lehnt, fällt dieser um, und der Elch ist wehrlos.“ Das ist der erste literarische Hinweis auf Jägerlatein.

Das ist eine witzige Geschichte.
Girtler: Ja, Cäsar ist voll drauf reingefallen. Daran merkt man auch schon die Bedeutung des Hirsches. Allein das Geweih galt und gilt als wertvolle Trophäe. Damit kann man auf den Tisch hauen. Den Wilderern war die Trophäe ja nicht so wichtig.

Aus welchen Gründen machten die Wilderer dann Jagd auf ihn?
Girtler: Es ging ums Essen. Die Trophäe konnte der Wildschütz sowieso nicht aufhängen, das wäre ja ein Beweis für seine Taten gewesen. Mir hat ein Wilderer erzählt, dass ihn nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder ein Gendarm besucht hat, um nachzusehen, was er so aufgehängt hat. Für einen Aristokraten war das natürlich etwas anderes. Die herrschaftlichen Jagdhäuser waren voll mit Hirsch- und Gamsgeweihen. Das Wilderermuseum in St. Pankraz in Oberösterreich hat den schönen Untertitel „Die Erweiterung der Kaiservilla“. So haben sich die kleinen Leute dem Kaiser gleichgestellt.

Hat der Hirsch heute noch die gleiche Bedeutung wie damals?
Girtler: Sicher. Beim Hirsch ist die Trophäe wichtig, weniger das Fleisch. Den Wilderern war das Fleisch nicht egal, sie waren Fleischjäger. Man muss unterscheiden zwischen Fleisch- und Trophäenjäger. Die meisten Jäger sind heute vor allem Trophäenjäger. Je mehr Enden das Geweih hat, desto besser. Das geht zurück bis in die Antike. Es ist eine alte Kultur damit verbunden.

Es gibt ja auch eine Unmenge an Wilderersagen, in denen der Hirsch eine große Rolle spielt.
Girtler: Ein Hirsch ist eben etwas Besonderes, etwas Achtenswertes. In vielen Kulturen war auch der Respekt vor dem Tier wichtig. Man erlegt das Tier, aber man achtet es auch. Deshalb gibt es die Theorie von mir: Die Wilderer waren die Ersten, die weidmännisch schießen mussten, also so, dass das Tier im Feuer fällt. Sie hatten keine Zeit, dem verletzten Tier nachzujagen. Ein guter Wilderer geht ja nicht mit dem Hund. Ein guter Wilderer, so wie der Herr Rudi (Kellner im Café, in dem das Interview stattfindet, und der gerade vorbeikommt), der konnte es sich nicht leisten danebenzuschießen. Herr Rudi: Mein Vater und mein Großvater haben gewildert, ich nicht mehr. Girtler: Wir reden gerade darüber, dass ein Wilderer gut schießen musste. Herr Rudi: Sicher, der erste Schuss musste sitzen. Girtler: Die waren die Ersten, die weidmännisch gejagt haben, später wurde das von den regulären Jägern übernommen. Die Hocharistokratie hat Treibjagden betrieben. Angeblich war Erzherzog Johann der Erste, der weidmännisch geschossen hat. Dort, wo man schwer hinkam, das war interessant, die Gams oder eben das hoheitliche Tier, der Hirsch. Das Rehwild war mehr zum Essen, auch heute noch.

Die Wilderer wurden von der Obrigkeit offenbar gehasst. Wie war ihr Status in der normalen Bevölkerung?
Girtler: Der Wilderer war der Held der kleinen Leute. Deshalb sind diese Wildererfilme auch immer sehr gut angekommen in der Bevölkerung. Das ärgert die Jäger auch immer so. Ein Wilderer war oft ein Bauernbursch, der einerseits wegen des Fleisches und andererseits wegen des Flurschadens gejagt hat. Das waren schnittige Gesellen und sehr beliebt – solange sie anständig waren. Ein guter Wilderer hat sich auch an gewisse Regeln gehalten. Zum Beispiel war das Schlingenlegen verpönt.

Wie kommt es, dass „Hirsch“ auch oft als Schimpfwort gebraucht wird?
Girtler: Das ist eine gute Frage. Darüber sollte man sich auch einmal Gedanken machen.

Univ.-Prof. Dr. Roland Girtler lehrt am Institut für Soziologie der Universität Wien. Seit 2000 leitet er das Museum „Wilderer im Alpenraum – Rebellen der Berge“ in St. Pankraz bei Hinterstoder, Oberösterreich.