So kennt man Irland: Wiesen, Klippen, Steinmauern und das Meer.

Foto: aranislands.ei
Grafik: Der Standard
Mícheál O\ Halmhain ist so ein Krankheitsüberträger. Mícheál ist die gälische Version von Michael. Mícheál trägt seinen Namen wie den breitkrempigen Hut mit sichtbarem Stolz. Mícheál ist Musiklehrer auf den drei Aran-Inseln vor der mittleren Westküste, und das wäre allein schon eine Geschichte.

Aber Mícheál ist auch Hobbyhistoriker und Fremdenführer. Und wenn er zu erzählen beginnt, setzt die Wirkung des irischen Bazillus in Sekundenschnelle ein. Auch wenn er mit den Besuchern natürlich nicht Gälisch spricht, das auf den Aran-Inseln noch verbreiteter ist als im Rest des Landes. Das keltische Idiom ist in Irland neben dem Englischen zwar Amtssprache, kommt im Alltag aber immer seltener vor, außer auf Straßenschildern und in offiziellen Dokumenten und Verlautbarungen.

Mícheáls Heimat ist Inis Oírr (Englisch Inisheer), die östlichste und kleinste der drei Inseln. Seit 5000 Jahren leben Menschen hier. Und wovon immer sie früher gelebt haben, heute bestreiten die 260 Einwohner ihr Leben durch Sozialhilfe und Tourismus. Aber der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot allein. Die starke Präsenz des Gälischen verweist auf die historische Bedeutung der Inseln. Wenn Mícheál darauf zu sprechen kommt, beginnt sein Gesicht zu leuchten, nicht ohne einen gewissen schelmischen Zug. Glaubt höchstens 40 Prozent von dem, was ich euch erzähle, hat er bei der Begrüßung gesagt.

Wir wollen nicht kleinlich sein. 40 Prozent wären angesichts dessen, was dann folgte, immer noch viel. Im Ernst: Die Aran-Inseln dürfen zumindest als eine der Wiegen der europäischen Zivilisation gelten. Um 450 nach Christus kam der heilige Enda nach Árainn (Inishmore), die größte der Inseln. 514 wurde hier das erste bedeutende Kloster Irlands gegründet. Von hier gingen irische Mönche später nach Festlandeuropa und trugen entscheidend zum Entstehen der Klosterkultur bei. Und die wurde nach dem Untergang des Römischen Reiches zur Trägerin der europäischen Zivilisation.

In den Wirren des "finsteren Zeitalters" auf dem europäischen Festland hatten die Klöster im abgeschiedenen Irland über Jahrhunderte das Geistesgut der Antike erhalten. In Thomas Cahills Buch "Wie die Iren die Zivilisation retteten" wird diese Schlüsselphase im Werden Europas packend dargestellt, wenn auch nicht so amüsant wie von Mícheál.

Ein bisschen von diesem europäischen Sendungsbewusstsein mit Augenzwinkern ist wohl noch in jedem Iren drin. Und das vermag den irischen Mythos zumindest teilweise zu erklären. Den Mythos der Gleichzeitigkeit von Geschichte und Gegenwart, von Einbildung und greifbarer Realität, von harten Fakten und ihrer Verklärung. Einen Mythos, dem die irische Landschaft an allen Ecken und Enden Vorschub leistet, indem sie suggeriert: Da ist noch viel, viel mehr, als du mit dem Auge siehst. Sodass man, einmal von der irischen Krankheit befallen, sich nur damit trösten kann, dass sie ihre Heilung in sich trägt. Die funktioniert nämlich nur homöopathisch: Gleiches mit Gleichem bekämpfen.

Heinrich Böll mag es so ergangen sein, als er 1954 erstmals Irland besuchte. Vielleicht deshalb gehört sein "Irisches Tagebuch", das 1957 erschienen ist, zum Besten, was er geschrieben hat. Bölls erste irische Bekanntschaft war der äußerste Westen, die Grafschaft Mayo, die sich etwa hundert Kilometer nördlich der Aran Islands erstreckt. Weil es sich dabei um das Armenhaus der Insel handelte (die damals ihrerseits das Armenhaus Europas war), fügen ältere Iren noch heute ein "God help us" hinzu, wenn der Name Mayo fällt.

Heute ist Achill Island (eigentlich eine durch eine Brücke mit dem "Festland" verbundene Halbinsel im Westen der Grafschaft Mayo) eines der beliebtesten Feriengebiete. Im Juli und August steigt die Einwohnerzahl von 3500 auf das Drei- bis Vierfache. Den Wassersportlern haben es vor allem die prächtigen Wellen am Strand von Keel und in der nahen Keem Bay angetan. Die Surfsaison beginnt hier schon im April. Insgesamt vier "Blue Flag Beaches", also Strände der allersaubersten Kategorie, kann Achill Island aufweisen.

Aber das war es wohl nicht, was Heinrich Böll hierher zog. Mayo - God help us! - war die von der Hungersnot 1845 bis 1849 ("The Great Famine") und der von ihr ausgelösten Auswanderungswelle am stärksten betroffene Region Irlands. Im Kapitel "Skelett einer menschlichen Siedlung" beschreibt Böll ein verlassenes Dorf mit fotografischer Unmittelbarkeit. Wenn die Hungersnot und das, was daraus im Land und in der irischen Literatur folgte, zentraler Teil des irischen Mythos ist, dann ist Mayo sozusagen ihr geografischer Kern. "Ihr habt viele Gründe, unglücklich zu sein, aber ihr liebt auch die Poesie des Unglücks", sagt Böll im "Tagebuch" zu einem gewissen Padraic (Patrick). Irische Krankheit, irische Heilung.

Böll ist noch viele Male nach Achill Island zurückgekehrt. Sein Domizil in Dugort an der Nordküste der Insel wurde später in das "Heinrich Böll Cottage" umgewandelt, eine Art Stiftung für junge Schriftsteller, die sich hier für einige Wochen vom irischen Bazillus anstecken und inspirieren lassen können. Besucher sind begreiflicherweise unerwünscht.

Nicht zufällig steht das nagelneue National Museum of Country Life in der Grafschaft Mayo. Das Turlough Park House bei Castlebar, ein Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert, erhielt einen großzügigen Zubau in preisgekrönter Quader-Architektur. Wenn damit die Absicht verbunden war, dem irischen Mythos mit demonstrativer Nüchternheit zu begegnen, dann ist sie gelungen - zumindest optisch. Neben der irischen Flagge weht, tiefer gesetzt und deutlich kleiner, aber immerhin, jene der EU. Wie in die gesamte irische Republik seit deren Beitritt 1972 sind auch in dieses Projekt beträchtliche Gemeinschaftsgelder geflossen.

Im Innern setzt sich das Bestreben fort, einen unverklärten Blick auf die irische Geschichte zu fördern. Das Landleben der einfachen Leute wird in Installationen, Schauräumen und auf Videos so dargestellt, wie es eben war: hart, entbehrungsreich und bar jeder Romantik. Eine große Schautafel stellt dieser Realität Bild für Bild, Szene für Szene die Überhöhung und Mystifizierung in Literatur, Film und Musik gegenüber.

Hat die Museumstherapie gewirkt? Wir fahren auf unserer Westtour weiter in Richtung Süden, vorbei am Croagh Patrick. Der 765 Meter hohe Kegel ist der heilige Berg der Iren - aber wiederum in mehrfacher Bedeutung. Er erinnert nicht nur an den katholischen Nationalheiligen, der hier die Insel schlangenfrei gemacht haben soll, sondern auch an einen viel älteren heidnischen Gott: Crom Dubh, den dunklen Gott. Diesem mystischen Wesen ist der letzte Sonntag im August gewidmet. Im vergangenen Jahr stiegen an diesem Tag 30.000 Menschen auf den Berg - die meisten von ihnen wohl rechtgläubige Katholiken.

Begleitet von Crom Dubh wird die Fahrt entlang des Erriff zur irischen Reise schlechthin. Der Fluss ist ein Paradies für Fliegenfischer, heißt es. Aber man muss kein Fliegenfischer sein, um das Besondere dieser Landschaft - ja: zu erfühlen. Die grünen Flecken am mäandernden Fluss gehen über in braune Hänge, die noch Spuren der "lazy beds" tragen: Erdäpfeläcker, deren Zeilen in Hangrichtung angelegt wurden, damit das Wasser von selbst ablaufen konnte.

Wo der Erriff ins Meer mündet, am Endpunkt eines Fjords, liegt Leenaun. Wer den Film "Das Feld" gesehen hat, kennt Leenaun. Denn hier wurde der beklemmend-famose Streifen um den Besitz eines Ackers mit John Harris in der Hauptrolle gedreht. Die Pubs bei der Brücke von Leenaun verdienen gut an der Geschichte, eines nennt sich sicherheitshalber gleich "The Field". Die Einheimischen an der Theke und an den Tischen draußen mustern die Besucher mit einer Mischung aus Stolz, Amüsement und Selbstironie. Irische Realität? Irischer Mythos? Wer kann und will das auseinanderhalten. Bei Heinrich Böll liest es sich so: "Mit der Folklore ist es fast wie mit der Naivität: Wenn man weiß, daß man sie hat, hat man sie schon nicht mehr." (Josef Kirchengast/Der Standard/Rondo/01.06.2007)