Mathematik versucht auch nichts anderes, als mit Zahlen Beziehungen herzustellen: Das Ensemble der britischen Theatergruppe Complicite in ihrer aktuellen Produktion "A Disappearing Number".

Foto: Robbie Jack/Festwochen

Wien - Bei der Behauptung seines Mathematiklehrers, null geteilt durch null ergäbe eins, erlaubte sich Schüler Srinivasa A. Ramanujan eine kleine Zwischenfrage: Wenn man keine Frucht auf niemanden aufteilt, bekommt dann auch jeder eine?

Da fragte ein Genie. 1914, im Alter von 27 Jahren, folgte der in der indischen Provinz geborene Brahmane dann dem Ruf Prof. G. H. Hardys nach Cambridge, um für mehrere Jahre im Zangengriff von miesem Klima und bedauerlicher Kulinarik Formelberge, die die Welt noch nicht gesehen hat, anzuhäufen. Er starb nicht einmal 34-jährig an Schwindsucht. Der für manche als größter Mathematiker der Geschichte geltende Ramanujan hat 4000 Formeln hinterlassen, von denen zuletzt im vergangenen März wieder eine nachgewiesen werden konnte.

Dieses Leben erzählt von der unfreiwilligen Entrücktheit eines Menschen, der mit seinen Zahlen in Wahrheit auch nichts anderes wollte als Beziehungen herstellen. Der gezeigt hat, wie Strukturen ineinandergreifen, wie alles zusammenhängt.

"It\s not mathemathics, it\s theatre" ruft in der Festwochen-Koproduktion "A Disappearing Number" plötzlich erleichtert ein abgehalfterter Einzelgänger einer Professorin entgegen, die an einer imposanten Kettenbruchzeile quer über die Breitseite der Hörsaaltafel feilt. Er interessiert sich für Zahlen, für ein paar nur, für jene genau genommen, die die private Telefonnummer der Frau Professor ausmachen. Er ist Simon McBurney selbst.

Der geheimnisvolle, liebenswürdige und seit 24 Jahren als Vater der britischen Company Complicite die Schönheit des Theaters erprobende Regisseur träufelt in "A Disappearing Number" Lebenssaft auf die Mathematik. Und das mit der Heiterkeit eines selbstvergessenen Zahlendompteurs: "Bis jetzt ist alles sehr logisch. Aber jetzt kommt die Riemann\sche Zeta-Funktion!!"

Und sie kommt, sie kommt in Zeichengebirgen. Zeichen, die dem praktischen Leben fremd sind. Deren Muster ("patterns") aber, wie es in dem auch hier viel zitierten Buch "A Mathematician's Apology" von G. H. Hardy heißt, jenen von Malern oder Dichtern gleichen. Und da ist die Frage "Möchtest du Kinder?" auch eine mathematische.

Stumme Gemälde

McBurney schichtet wie immer ("The Noise of Time", Festwochen 2002) mehrere Erzählstränge übereinander. Die durchaus pathetischen Bilder aus Ramanujans kurzem Leben - das famos imaginierte indische Seeufer (Sven Ortel für mesmer) oder eine verschneite Parkanlage in Cambridge, sie leuchten (zum Teil hinter Gazevorhängen mit Schatteneffekten) wie stumme Gemälde in die Gegenwart herein.

In ein Heute, in dem Callcenterstimmen mit geduldigen Kunden Telefonnummern buchstabieren; in dem indische Mathematiker in Genf Vorträge halten und beim Heimflug die Urne der toten Tante aus London mitführen. Flugzeuglärm ertönt stereo-surround, ein Taxi kämpft sich durch die projizierten Straßen von Madras. Und über allem fließt immer wieder und zur Musik von Nitin Sawhney der Zahlenteppich, den das alles ausmacht.

Die zeitlichen und räumlichen Grenzen findet man bei McBurney auf lustvolle Art niedergerissen. Menschen aus verschiedenen Zeiten treten zueinander. Wenn auch in leider allzu langen und wiederholten Sequenzen. McBurney gibt das nach der Premiere in der Halle E unverhohlen zu: "Wir sind noch nicht fertig. Marie Zimmermann wollte etwas wachsen sehen." Es tat dem Abend keinen Abbruch. ( Margarete Affenzeller / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.5.2007)