Der Schriftsteller Gerhard Roth.

Foto: Christian Fischer
Auch in der "Liesl", dem Polizeigefängnis an der Roßauer Lände in Wien, schlägt mir Misstrauen entgegen, das sich hinter korrektem Verhalten verbirgt. Ich komme eigentlich, um Zeuge einer Abschiebung von Nigerianern und Schwarzafrikanern zu werden, weil diese besonders häufig davon betroffen sind. Daraus wird jedoch nichts, ich werde nur durch das Haus geführt.

Das Gefängnis ist auf meinen Besuch gut vorbereitet, aber auch ich bin nicht ganz ohne Erfahrung. Vor zwanzig Jahren sah ich dort bei einer Recherche keinen einzigen Gefangenen, bis ich sie in zwei parkenden Gefängnisbussen im schmalen Hof und eine weitere große Gruppe hinter einer Gittertür entdeckte. Angeblich waren sie alle beim Duschen. Es macht mich daher auch misstrauisch, dass ich nicht das Polizeigefängnis Hernalser Gürtel zu sehen bekomme.

 Foto: Gerhard Roth

Oberst Zinsberger, der Kommandant des renovierten Polizei-Anhaltegefängnisses, erwartet mich in Uniform und zeigt mir in der menschenleeren "Besucher-Zone", die umgedrehten gelben Stühle auf den Pulten vor den menschenleeren Kabinen, die Telefone, über die gesprochen wird, und erwähnt die Möglichkeit eines "Tischbesuches" mit einem Anwalt. Angehörige bekommen nur am Wochenende die Erlaubnis für einen Besuch, und zwar für eine halbe Stunde. Zuvor würden sie kontrolliert, damit sie nicht "unerlaubte Substanzen" in das Gefängnis hineinschmuggelten. Das komme aber leider trotzdem vor. Weibliche Häftlinge dürften ein Kleinkind bis zweieinhalb oder drei Jahre in die Zelle mitnehmen. Die Wartezeit für die Abschiebung betrage im Schnitt 21 bis 22 Tage. Die Haft dürfe aber in einem Zeitraum von zwei Jahren zehn Monate nicht überschreiten, dann müsse der Schubhäftling freigelassen werden. Derzeit seien die beiden Polizeigefängnisse, die 260 Mitarbeiter beschäftigten - Roßauer Lände und Hernalser Gürtel -, mit insgesamt 430 Personen belegt, 70 Prozent der Häftlinge seien in Schubhaft, der Rest sitze eine Verwaltungsstrafe ab. In der "Liesl" gebe es 63 Gemeinschafts- und 52 Einzelzellen. Eine Kommission des Menschenrechtsbeirates komme unangemeldet circa einmal im Monat - es gebe "Auffassungsunterschiede", bemerkt der Kommandant knapp.

Ich blicke durch die vergitterten Fenster in den trostlosen Hof, wo gerade "Bewegung im Freien" durchgeführt wird. Schon von der Sprache her sind die Häftlinge Marionetten, die an Schnüren bewegt werden, sie sind entpersonalisiert, haben Ding-Charakter. Gruppenweise drehen sie im Hof ihre Runden, wohl schwer lassen sich die Eindrücke der Schubhäftlinge mit der Vorstellung, die sie sich von der "Neuen Welt" machten, vereinbaren. Eine halbe Stunde am Vormittag und am Nachmittag dürfen sie sich "im Freien bewegen". Hat ein Schubhäftling bei seiner Verhaftung eigenes Bargeld bei sich gehabt oder wird ihm welches in das Gefängnis gebracht, darf er bis zu 40 Euro pro Woche für Lebensmittel, Toilettenartikel oder Rauchwaren ausgeben, die es im Gefängnis privat zu kaufen gibt.


Foto: Gerhard Roth

Lesen Sie weiter: "Der Gedanke, Frauen eingesperrt zu sehen, bedrückt mich noch mehr, als es bei Männern der Fall ist."

Vor der Sanitätsstelle warten vier oder fünf Patienten und ein oder zwei vor dem "Psychiatrischen Dienst". Das Gefängnis ist ordentlich geführt und sauber. Wir begegnen jedoch kaum jemandem, auch die Räume des Erkennungsdienstes sind verlassen, als besuchte ich ein vergessenes Polizeimuseum. Es geht wieder um Daktyloskopie, Fotografie und um den Mundhöhlenabstrich für die DNA-Probe. Zwei Stockwerke sind für männliche Häftlinge vorgesehen, das oberste für weibliche. Wir besichtigen das letztere. Der Gedanke, Frauen eingesperrt zu sehen, bedrückt mich noch mehr, als es bei Männern der Fall ist. Aber natürlich ist es in einem Frauengefängnis sauberer und ruhiger als unter männlichen Häftlingen, und das wird auch der Grund sein, weshalb ich die Männerabteilungen nicht zu Gesicht bekomme.


Foto: Gerhard Roth

In jeder Zelle sind sechs Frauen in drei Stockbetten untergebracht, die Toilette ist abgemauert. Zu meiner Überraschung begegne ich weiblichen Häftlingen, die unbeschwert zusammensitzen, auf dem Bett liegen, Essen ausführen. Offenbar, argwöhne ich, wurde auch unter den weiblichen Häftlingen "aufgeräumt". Die Wände neben den Stockbetten sind oft mit Kugelschreibern beschriftet. Die verschiedensten Schriftzeichen und Wörter sind zu erkennen und die verschiedensten Sprachen zu entziffern. Dazwischen kindliche Zeichnungen: ein Sternenhimmel, ein Hase, Berge, Bäume, Herzen, eine Rose. Farbige Aquarelle sind mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Die Betten sind sorgfältig gemacht, Sonnenlicht fällt durch die Gitterstäbe auf den glänzenden Steinboden. Die Mutter-Kind-Zelle ist nicht belegt (und wieder stellt sich Misstrauen ein) - der Wickeltisch, das weiße Gitterbettchen und die Vorstellung, dass Kinder zurück in die Ungewissheit abgeschoben werden, ist überdies bedrückend. Da nützt es auch nichts, dass es einen eigenen Mikrowellenherd, eigene Dusche und einen eigenen Kühlschrank in der Mutter-Kind-Zelle gibt.


Foto: Gerhard Roth

Man bemühe sich auch, erklärt der Kommandant, Mütter mit Kindern rasch, innerhalb von sieben bis 14 Tagen abzuschieben. Der "Schubtermin", so der Begriff aus der Marionettentheatersprache, wird erst am Vortag bekannt gegeben. 15 Prozent der Schubhäftlinge, erklärt der Kommandant weiter, würden "Selbstverletzungen" an sich vornehmen oder in den Hungerstreik treten, um aus dem Gefängnis herauszukommen. Die Hälfte sei damit "erfolgreich", denn sie würden dann ins Krankenhaus gebracht, das nicht bewacht sei und aus dem sie fliehen könnten. Hierauf, so der Kommandant, "wiederhole sich das Spiel". Dieser Polizeibegriff fällt mehrmals.


Foto: Gerhard Roth

Lesen Sie weiter: "Das Ticket müsse jedoch der Abgeschobene selbst bezahlen, außerdem 28 Euro pro Hafttag und die Dolmetscherkosten."

14 Tage später, setzt der Kommandant fort, würde zumeist der Schubhäftling beim Schwarzfahren ertappt, in der Zwischenzeit habe er sich irgendwie durchgehungert - jedenfalls werde er bald wieder festgenommen. Er halte sich ja nach wie vor illegal im Land auf, betont der Kommandant. In der Schubhaft dann würde der Betreffende aber wieder mit dem Hungerstreik beginnen. Solange er sich in der Ausnahmesituation befinde, würde er täglich vom Amtsarzt auf Haftfähigkeit untersucht und möglicherweise wieder ins Krankenhaus gebracht, aus dem er aber wieder fliehe. Entweder tauche er dann eines Tages unter, oder er gebe auf. Habe er sich dazu entschlossen, werde er zur Rückkehrberatung gebracht, wo ein Kontaktgespräch mit "muttersprachlichem Betreuer" stattfinde. Sobald man sich geeinigt habe, werde die Rückkehr vollzogen. Das Ticket müsse jedoch der Abgeschobene selbst bezahlen, außerdem 28 Euro pro Hafttag und die Dolmetscherkosten. Das Geld werde ihm - wenn er keines besitze - vorgestreckt und die Schuld auf 20 Jahre ausgesetzt, das heißt, sie werde fällig, wenn er in diesem Zeitraum wieder einreise. Auf dem Weg zu den Einzelzellen kommen wir an einer geöffneten Tür vorbei, ich trete näher, sehe sechs Frauen, Chinesinnen, Vietnamesinnen und eine Mongolin, wie ich erfahre, beim Kartenspiel. Die aufgeschlagenen Spielkarten liegen auf der grauen Decke, und es erweckt den Eindruck, als handle es sich um eine Zukunftsbefragung.


Foto: Gerhard Roth

In die Einzelzellen kann man auf eigenen Wunsch, strafweise oder zu "Sicherungsmaßnahmen" bei einem Selbstmordversuch verlegt werden. Es ist ein abgesonderter, langer Trakt mit spiegelglänzendem steinernem Fußboden. Durch die Türklappen sehe ich einen weiblichen Häftling ein Buch lesen, in einer anderen Zelle schläft eine junge Frau. Man spürt ihre Verlassenheit, ihr Ausgeliefertsein, und obwohl ich schon vieles gesehen habe, gibt es mir im Herz einen Stich. Wir haben noch nicht alles besichtigt. Die Sicherheits- und die Gummizelle sind nicht belegt. Die Sicherheitszelle ist, wie ich sehe, weiß gefliest, die Toilette in den Boden eingelassen, die körperliche Verrichtung erfolgt in hockender Stellung. Die dort "Verwahrte" liegt wie ein lebendes Tier in der Auslage eines Fleischhauers und ist den Blicken durch die Luke ausgeliefert.

Die Gummizelle nebenan ist ein grün gepolsterter Raum, in den der "renitente" weibliche Häftling gesperrt wird, wenn er "randaliert". Wahrscheinlich ist es einer "durchdrehenden" Frau nur zu viel geworden an Verfolgung, Überprüfung, Verhaftung, Wegsperrung, Überwachung und Kontrolle, denke ich, wahrscheinlich spürte sie, dass alle Risiken, alles Leid, alles Elend, das sie auf sich genommen hat, um die "Neue Welt" zu sehen, umsonst waren, und hat nun sinnlos gegen Gegenstände, Mithäftlinge, Wachpersonal rebelliert. Jedenfalls wird sie in den gepolsterten Schrankraum gesteckt, der leer ist wie das Innere einer aufgestellten Schuhschachtel. Die Fenster zum Hof und das andere über der Tür, das zum Gang hinausführt, sind aus unzerbrechlichem Glas ebenso wie die Verkleidung der Neonröhre an der Decke.


Foto: Gerhard Roth

Irgendwo oben in diesem dunkelgrünen, glänzenden, abgedichteten Raum befindet sich eine Überwachungskamera. Und es gibt auch das Guckloch in der Tür, durch das man in die vier Wände hineinschauen kann. "Il mondo novo". Auf dem Gemälde von Tiepolo sind fast alle Menschen nur von hinten zu sehen. Sie haben, wie auch die "Illegalen", "Asylanten" und ihre Bewacher, kein Gesicht. "Mondo novo" bezeichnete eine Jahrmarktsattraktion, den Vorläufer der Laterna Magica, des Panoptikums, der Diaprojektion und des Fernsehens. Vom Posten auf dem spiegelglatten Gang vor den Einzelzellen kann ein Bildschirm kontrolliert werden, in dem ständig die nackte Gummizelle von oben zu sehen ist, ein Blick wie in einen Schlund. Ich starre auf den glatten Bildschirm, der an der Decke des Ganges gut sichtbar befestigt ist und frage den Kommandanten nach der Funktion. Er erlaube, sagt er sachlich, die Beobachtung des eingesperrten weiblichen Häftlings von außen. Der Amtsarzt müsse zwar "verbindlich" geholt werden, setzt er fort. Zumeist dauere es aber vier bis fünf Stunden, bis sich die "Randalierende" wieder beruhigt habe. Wir starren beide zum Bildschirm hinauf, auf dem sich punktförmig Lichtreflexe spiegeln. Unverändert zeigt er die dunkelgrüne Gummizelle, die von oben jetzt wie ein tiefer Schacht aussieht.

Man setze auf Zeit, sagt der Kommandant.
(Gerhard Roth/DER STANDARD-Printausgabe, 23.5.2007)