Gustavo Márquez Marín, früher Botschafter in Wien, treibt nun die Pläne von Präsident Chávez zur Integration Lateinamerikas voran.

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Gustavo Márquez Marín, der ein Schlüsselministerium in der Regierung von Venezuelas linkem Präsidenten Hugo Chávez leitet, berichtete in Wien über die nächsten Pläne nach der Übernahme der vollen Kontrolle über die Erdölvorkommen. Birgit Zehetmayer fragte nach.

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STANDARD: Die Regierung von Venezuela hat am 1. Mai den Austritt aus dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank angekündigt. Was sind die Motive?

Gustavo Márquez Marín: Diese Organisationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf die Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren ins Leben gerufen. Man wollte eine Wiederholung verhindern. Spätestens in den 1990er-Jahren entpuppte sich dieses System als trojanisches Pferd, mit dem der so genannten Dritten Welt und vor allem Lateinamerika ein neoliberales Wirtschaftssystem aufgezwungen wurde.

An der Politik dieser Finanzinstitutionen hat sich trotz erschreckender Auswirkungen im sozialen Bereich bis heute nichts geändert. Es ging um eine stets noch zu verbessernde Investitionsfreundlichkeit für den so genannten Norden bei gesicherten Gewinnausschüttungen zu besten Konditionen. In Lateinamerika wuchs währenddessen die Armut.

STANDARD: Und deswegen will Venezuela raus?

Márquez: Das war der logische Schritt. Und der historische Zeitpunkt ist mehr als günstig: Venezuela hat keinerlei Schulden bei beiden Institutionen, Brasilien ist mittlerweile dem IWF gegenüber unabhängig, auch Argentinien hat sämtliche Kredite beim IWF getilgt, während Ecuador bei der Weltbank schuldenfrei ist.

Der historisch gewachsene, somit traditionell antiimperialistische, sich gegen jedwede Abhängigkeit auflehnende Geist Lateinamerikas sucht die Integration des gesamten Kontinents, will die Konstitution einer selbstständigen Wirtschaftsmacht, die wir ja de facto immer schon waren. Wir wollen gleichwertige Partner sein und das können wir nur, wenn wir über eigene Instrumente verfügen.

STANDARD: Und wie sollen die konkret aussehen?

Márquez: Ausschlaggebend ist die Gründung der Banco del Sur, der Bank des Südens. In ihrem Rahmen soll ein Reservefonds eingerichtet werden, der durchaus mit dem IWF vergleichbar ist, wenngleich seine Motivation eine geradezu gegenläufige ist. Es geht natürlich um mehr als die Errichtung einer weiteren Bank - es geht um die Schaffung eines Systems, das darauf ausgerichtet wird, ökonomische Selbstständigkeit zu erlangen und am Weltmarkt über die Preise, zu denen unsere Rohstoffe gehandelt werden, mitbestimmen zu können.

Gegenwärtig ist der Weltmarkt ja gänzlich von den Industrieländern dominiert, die unsere Rohstoffe benötigen. Es sind die Börsen von Chicago und London, wo man die Preise für unser Aluminium, den Zucker, Kaffee usw. festlegt. Nun sind diese Rohstoffe nach wie vor das wesentliche Fundament unserer Nationalökonomien, die einen technologischen und somit produktiven Entwicklungsrückstand aufweisen, der sie zum Großteil chronisch von der Exportwirtschaft der Rohstoffe abhängig macht.

Das Ziel ist es daher, einen eigenen regionalen Markt zu schaffen, eine Art Union der lateinamerikanischen Rohstoff-Produzenten, die ein Preis-Kontrollorgan werden muss, um diese angestrebte regionale Autonomie auch durchsetzen zu können.

STANDARD: Was wird aus den Schulden?

Márquez: Wir sind davon überzeugt, dass das Management der Auslandsverschuldung unserer Länder auf regionalem Niveau absolut möglich ist, und wir haben auch Belege dafür: Venezuela ist es durch den Kauf von Staatsschuldscheinen gelungen, die Auslandsverschuldung Argentiniens abzufedern, ohne dass auch nur irgendeine Intervention einer anderen Finanzinstitution notwendig gewesen wäre.

STANDARD: Die Rede ist auch von einer "sozialen Dimension" dieses Projekts.

Márquez: Ich ziehe es vor, von einer "akkumulierten Sozialverschuldung" zu sprechen, die weder überwunden noch je bezahlt werden kann, wenn man am Modell eines angeblich alles richten könnenden Wirtschaftswachstums festhält. Ich spreche konkret von der Ausrottung des Analphabetismus als Basis einer künftigen technologischen Entwicklung, vom Aufbau eines integrativen Gesundheitssystems, um mit den endemischen Krankheiten unserer Bevölkerung, der Malaria, dem Denguefieber, Hepatitis etc. aufräumen zu können.

Die Menschen müssen freien und universellen Zugang zu allen Angeboten eines solchen Gesundheitssystems haben. Dann ist da natürlich auch der soziale Wohnbau, wir müssen die Menschen aus den Favelas, aus den Slums herausholen; das hat nicht nur mit ihrer Gesundheit, sondern natürlich auch mit Umweltaspekten, mit den grundlegenden Lebensbedingungen unserer Bevölkerung zu tun.

STANDARD: Woher sollen dafür die Mittel kommen?

Márquez: Die internationalen Reserven unsere nationalen Zentralbanken sollen in der "Bank des Südens" deponiert werden, natürlich nicht, um sie auszugeben, sondern um mit diesen enormen Finanzressourcen Renditen zu erwirtschaften, die dann in die Finanzierung der sozialen Agenda fließen sollen. In Lateinamerika gibt es hunderte staatliche Entwicklungsbanken, die gegründet wurden, um mit großem Aufwand kleinere Industrien anhand eines Mikro-Kreditsystems zu finanzieren.

Es ist dringend notwendig, ein Synergiesystem zu entwerfen, das diese kleinen Banken zu einem Netzwerk innerhalb der "Bank des Südens" zusammenfasst, um große strukturelle Integrationsprojekte angehen zu können. Als Perspektive nenne ich hier nur die Erdölindustrie, die ein ganz vitaler Lebensnerv ist und der dringend ein Strukturierungsprojekt zur Steigerung der Produktivität zur Seite gestellt werden muss. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.5.2007)