Das mit Bambusmessern ausgenommene Schwein ist fertig für den Erdofen, in der Dani-Sprache Mumu genannt.

Foto: Michael Grünwald

Am offenen Feuer, wo die Steine für den Mumu erhitzt werden, sengen die Danis dem Festtagsschwein die Borsten ab.

Foto: Michael Grünwald
Kapitel 4: Die Bibliothek von Jiwika

Es ist fast Mittag. Rechts von mir erstrecken sich die Ausläufer der Baliem-Bergkette in dunstigem Licht, das Gras der weitläufigen Hügelkuppe auf der wir stehen, ist von sattem Grün. Es duftet nach Erde und feuchter Hitze. Irgendjemand hat die Zeit zurückgedreht. Ich befinde mich inmitten vergangener Tage. Oder besser gesagt in einer Bibliothek riesigen Ausmaßes. Kein verstaubter, dämmriger Raum mit Regalen, die keiner erklimmen kann. Hier gibt es keine Bücher, die es wert wären, gelesen zu werden. Bibliotheken funktionieren auch anders. Das einzige, was beide Arten von Bibliotheken gemeinsam haben, sind Wörter. Nur: Hier in dieser windigen, sattgrünen Wildnis ist es das gesprochene Wort, dem ich begegne. Man blättert für mich Seite für Seite weiter. Ich lese und es wachsen Gestalten aus dem Gras. Kräftige, dunkle Silhouetten. Sie stehen im Gegenlicht. Ich sehe Speere, Schilder, und überdimensionalen Kopfschmuck.

Beim Begrüßen nehmen die Danis die Hand des anderen, führen diese an ihre Brust und flüstern ein melodisches „Whaa – Whaa“, was soviel heißt wie „Willkommen“.

Jiwika ist der Ort, an dem Geschichte zelebriert wird. Überlieferte Traditionen können nicht geschrieben werden, daher muss man sie darstellen. Ein Dorf hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Selbstbewusstsein eines Volkes im Angesicht von Adidas-Shirts und Videophone nicht sterben zu lassen. Mit Akribie und Liebe zum Detail zeigt Häuptling Yali Mabell, ein kleiner, kerniger, gutmütig dreinblickender Mann mittleren Alters, was es heißt, Dani zu sein. Die gesamte Gemeinschaft – Frauen und Männer jeden Alters sowie deren Kinder – spüren und leben eine Zeit nach, die sich unweit des Dorfes in den schwer zugänglichen Tälern immer mehr und sichtlich verabschiedet.

In diesem üppigen Fest, in dieser authentischen Zeremonie, liegt die Zukunft einer schwer nachvollziehbaren, aber wertvollen Vergangenheit. Von Kriegstänzen und Scheinangriffen über archaische Tänze bis zum kultischen Verzehr erdofengedünsteter Schweine reicht das Spektrum der dargebotenen Kultur. Eine Lektion im Zeitraffer, ohne aber auch nur einen Moment lang oberflächlich zu sein. Es ist die Liebe zur Identität, die mich vergessen lässt, einer falschen Gegenwart zum Opfer gefallen zu sein. Die Momentaufnahme liegt in den engen Tälern hinter den Bergen. Im weiten Becken des still dahinfließenden Baliem-Flusses aber liegt die Wehmut des Vergänglichen.

Wie das Mammut im Eis oder die Fliege im Bernstein konserviert Jiwika den Stolz eines Volkes. Vielleicht bis in alle Ewigkeit. Abhängig ist diese Prognose aber einzig und allein vom Interesse westlicher Besucher. Bleibt aber auch dieses aus, wird die ewige Flamme der geglückten Selbstdarstellung langsam aber stetig verblassen.

Wir hocken inmitten barbusiger, mit weißen Tupfen bemalten Frauen. Sie lächeln uns an, zögerlich, schüchtern. Manche haben nackte, rotznasige Babys auf dem Schoß. Das Schwein liegt unter zentnerschweren Steinen inmitten schwitzendem Gemüse. Der Klang eines fremden Dialekts schwebt schwerelos an uns vorüber. Jiwika ist eine Besonderheit, ein lebendiges Museum. Es sollte seine Pforten niemals schließen müssen. (Michael Grünwald)