Der Burgplatz in Brügge.

Foto: DVT Brügge
Weiße Mäuse? Man könnte auf Dauer auch damit leben. Rosa Elefanten? Die soll einem zunächst einer zeigen. Wirklich ernst zu nehmen sind sie bis dahin wohl nicht. Doch mit dem großen grünen Bären war das schon eine andere Sache. Ein feines Fell aus Gras wuchs dem Vieh. Ferner flauschige Knuddelohren. Aber auch eine satte Pranke, die plötzlich ein paar Meter über dir im Himmel schwebt - so stand der Wiesenteddy plötzlich herum. Am Starkbier konnte es an diesem Morgen nicht liegen.

Dass Brügges Hauptplatz überhaupt jemals aufreiben könnte - wer hätte das gedacht? Die Gäule der Fiaker jedenfalls nicht. Ein wenig nervös scharren sie jetzt am Marktplatz-Pflaster die Hufe - auch wenn sich die Scheuklappen-Optik im Übrigen so verhielt, wie an jedem anderen Pferdearbeitstag auch. Drüben der Belfries-Glockenturm, mit 83 Metern Höhe und 366 Treppenstufen der selbe potente steinerne Spargel wie eh und je. Dazu die lockenden Arkaden der mittelalterlichen Hallen am unteren Ende des Marktes. Und natürlich die Touris auf Nummer 16 vorm Craenenburg Café - alles zuverlässig da, wie gehabt. Alles, plus ein immergrüner Bär.

Zwei Brügge-Tage später war klar, was das Grastier hier trieb. Der grüne Bär war so eine Art Totem, er kämpfte gegen den Fluch Brügges an. Den Fluch eines weltberühmten Städtchen, über das die Vergangenheit in ziemlichen Wellen hinweggespült war, es mal hochhob, dann gnadenlos vertrocknen ließ, um es der Welt zuletzt neu zu servieren: als perfekte, mittelalterliche Handelsstadt-Konserve.

Neue Vertriebskanäle

Manche Jahre stachen dabei heraus. Etwa der Herbst 1134, als eine Sturmflut eine Fahrrinne zur Meeresbucht Zwin aufriss, was sich rückblickend als ziemlich perfektes Unwetter-Timing herausstellen sollte. Erstens hatte Brügge ja erst wenige Jahre zuvor das Stadtrecht erhalten, und lag mit der Herstellung von feinstem Tuch gut im Geschäft. Der neu entstandene Kanal zum Meer kam da gerade recht. Wer jemals bei "Die Siedler von Catan" gewonnen hat, kann leicht abschätzen, wie gut Brügge plötzlich im Rennen lag: Freier Transportweg für Wolle aus England! Eine Burg gegen herumstreunende Barbaren (Wikinger!) - für letztere hatte bereits Balduin Eisenarm, der erste Flandern-Fürst, gesorgt. Und natürlich: Stetes Business mit den angrenzenden Spielfeldern, pardon: Ländern. Klar, dass sich auf Dauer einiges ansammelte. Zunächst mal solide Stadtmauern plus noch heute vorhandenen Windmühlen und einem wahren Labyrinth von weiteren Kanälchen, an denen heute die Jungen der Stadt Angelwürmer baden. Die Kreuzritter brachten ein paar Blutstropfen Jesu als Startkapital für die spätere Heiligblut-Basilika ein - man frage nicht wie und woher genau.

Die Grauwwerkerstraat 35 wiederum nennt sich stolz Sitz der ersten Börse - ein finanztechnischer Spin-off der hier schon früh verkehrenden Hanse-Händler. Ferner bescherte der Handel Brügge: Eine eigene Schule der Malerei, den "Flämischen Primitive"-Stil um Jan Van Eyck und Hans Memling (aufgeteilt auf gleich mehrere lokale Museen). Und nicht zu vergessen: eben ein perfektes mittelalterliches Städtchen, das sich mit kleinen Kanälchen und steinernen Brückchen und von Efeu überwucherten Rapunzeltürmchen und Knusper-Fachwerk-Häuschen bis heute wie ein begehbarer Adventkalender präsentiert - am schönsten tatsächlich im Winter, und in den Vor- und Nebensaisonen, wenn sich ein Hauch von Breughel von den Massen unzertrampelt über die stillen Winkel legen darf.

Kein Wunder also, dass die historische Altstadt im Jahr 2000 in die Weltkulturerbeliste der Unesco aufgenommen wurde. Auch das gotische Stadhuis, Belgiens ältestes Gebäude, ist Teil dieses Ensemles. Und das schon erwähnte Haus des Craenenburg Café am Marktplatz zudem der Ort einer rabiaten Anekdote: 1488 stellten die Bürger hier den späteren Habsburger Kaiser Maximilian unter Hausarrest - nachdem dieser an ihren Handelsprivilegien rühren wollte.

Einschlafphase

Es war der Anfang vom Ende der goldenen Ära. Zuerst rächte sich Maximilian und leitete den Handel auf Antwerpen um. Dann zog sich sogar das Meer zurück: Versandende Wasserwege stellten Brügges Business immer weiter ins Abseits. Doch auch das war im Nachhinein betrachtet eine glückliche Fügung - zumindest für den lokalen Tourismus-Beauftragten. Die vergessene, reiche Handelsstadt fiel in einen mehrere Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf - und verpennte Industrialisierung, Moderne, Häuslbauer-Häme in einem Zug.

Spätestens hier kommt allerdings wieder dieser grüne Bär ins Spiel, dessen Ahnvater als angeblich ältester aber sicher bekanntester Bürger der Stadt in einer Mauernische des Staatsarchivs steht. Und damit auch der Fluch der verschlafenen Kleinstadt. Er wirbt für eine Gartenausstellung, so wie in Brügge immer irgendein Verein für irgendeine Aktivität wirbt, die dem von zwei Millionen Besuchern frequentierten Freilichtmuseum ein wenig Drive einimpfen soll. Kaktus-Ausstellung, Lichterfest, Grafik-Biennale, Neo-Klassizismus-Ausstellung, Heiligblut-Prozession samt Salome-Tanz, 100-Jahre Zeebrugge-Festival - die Liste der etwas verstaubten Events ist auch in diesem Jahr lang.

Konzertant Schweigen

Stolz wird überdies auf die neue Konzerthalle - Erbstück aus 2002, als Brügge Europä-ische Kulturhauptstadt war - und auf einen Pavillon des japanischen Architekten Toyo Ito verwiesen. Als ob man als Besucher mit dem Vorgefundenen nicht schon durchaus zufrieden sein könnte. Mit dem beredten Schweigen der alten Backsteinfassaden. Mit dem Marathon durch die 800 Spitzenklöppel-Läden der Stadt, die man, je nach Neigung, entweder kollektiv ausblenden, oder aber nach exakt jenem einen Tischtuch durchwühlen möchte, das einem zumindest die Illusion einer endlich doch noch solide geratenen Hausstandsgründung bewahren könnte.

Anregungen für gedeckte Tische liefert Flandern als Zugabe ohnehin mit: Kaninchen auf flämische Art. In Biersuppe gekochte Muscheln. Meeresjungfrauen aus Schokolade - alles da. Und zur Stärkung für spätere Zusammentreffen mit grünen Bären oder sonstigem Getier gibt es Kneipen wie das "\t Brugs Beertje". Erinnert an ein irisches Pub, hat aber mehr Bier - 300 Sorten. Goldenes Trappisten-Gebräu, limonenumflortes Witbier, säuerlich-nussiges Oud-Bruin-Kulturbier oder mit Senf bereitetes Biere de moutarde. Ein weiteres belgisches Paralleluniversum eben. (Robert Haidinger/Der Standard/Printausgabe/28./29.4.2007)