"Politik bedeutet für mich, dass sich jemand darum kümmert, dass in Österreich alles fair und gerecht ist. Wen ich wählen würde, weiß ich nicht, aber ich würde mich informieren. In der Schule sprechen wir vor allem im Deutschunterricht über Politik. Nevi, Gymnasiastin, 15"

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Wolfgang Sander, Politik-Didaktiker an der Uni Gießen.

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Mit ihm sprach Lisa Nimmervoll.

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STANDARD: Österreich führt als erstes EU-Land für Nationalratswahlen das Wahlrecht mit 16 ein. Welche Folgen muss das im Bildungssystem haben?

Sander: Es ist ein sehr starkes Argument für politische Bildung in der Schule. Sinn und Zweck politischer Bildung ist ja letztlich, die Bürgerinnen und Bürger für das zu befähigen, was sie in der Demokratie tun müssen: Politik zu beurteilen. Wenn schon Jugendliche während ihrer Schulzeit in die Situation kommen, auch ganz praktisch als Wählerinnen und Wähler politische Urteile zu treffen, brauchen sie ein Feld in der Schule, wo sie sich mit den damit verbundenen Fragen und Problemen auseinandersetzen können.

STANDARD: Derzeit ist politische Bildung in Österreich nur "Unterrichtsprinzip". Würden Sie ein eigenes Schul- und damit Ausbildungsfach empfehlen?

Sander: Es gibt ja erste Ansätze in höheren Schulen zur Entwicklung eines eigenen Fachs. Die Erfahrung in anderen Staaten zeigt, dass ein eigenes Unterrichtsfach die Qualität der politischen Bildung deutlich verbessert, weil die Lehrer fachlich kompetenter sind.

STANDARD: Wie ist Politik in deutschen Schulen verankert?

Sander: Es gibt in jedem Bundesland ein eigenes Fach, allerdings derzeit noch mit unterschiedlichen Bezeichnungen - zum Beispiel Politik, Sozial- oder Gemeinschaftskunde. In den Klassen fünf bis zehn liegt der Stundenanteil des Fachs etwa zwischen zwei und sechs bis sieben Jahreswochenstunden insgesamt. Daneben gilt politische Bildung auch als Unterrichtsprinzip, aber der Schwerpunkt liegt auf dem Fachunterricht.

STANDARD: Was muss politische Bildung eigentlich leisten?

Sander: Als allgemeine Leitidee des Faches gilt "politische Mündigkeit". Konkreter geht man von drei Kompetenzbereichen aus, die in der politischen Bildung entwickelt werden: politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und methodische Fähigkeiten. Menschen sollen somit in den Stand versetzt werden, politische Prozesse und Ereignisse reflektiert zu beurteilen, sich politisch zu engagieren - sofern sie dies wünschen - sowie das eigene Lernen zu gestalten.

STANDARD: Welche Demokratiekompetenzen sollen 15- - 16-Jährige, die vielleicht die Schule schon verlassen, haben?

Sander: Es gibt in Deutschland einen Entwurf für nationale Bildungsstandards in der politischen Bildung, der für dieses Alter etwa 30 Kompetenzen definiert. Ich nenne drei Beispiele: 15-Jährige sollten in der Lage sein, an einem Beispiel praktische Konsequenzen und Probleme der europäischen Integration zu erläutern. Sie sollten an konkreten Fällen politische Handlungsalternativen nach möglichen Konsequenzen und Nebenfolgen abwägen zu können. Ferner sollten sie eigene politische Urteile bilden und diese in Konfrontation mit anderen Positionen begründen und argumentativ vertreten können.

STANDARD: Welche didaktischen Prinzipien gelten für Politik-Lehrende in der Schule?

Sander: Didaktische Prinzipien sollen helfen, das komplexe Feld der Politik lernbar zu machen. Dazu gehört das exemplarische Lernen: Lehrer müssen in der Lage sein, Beispiele auszuwählen, an denen man Verallgemeinerbares über Politik lernen kann. Zweitens das Prinzip der Problemorientierung, das den Problemgehalt politischer Situationen erschließt. Sehr wichtig ist Schülerorientierung. Hierfür benötigen Lehrer die Fähigkeit, Schülervorstellungen angemessen zu diagnostizieren und Lernangebote so zu konzipieren, dass sie an diesen Schülervorstellungen ansetzen und diese weiterentwickeln können. Weitere Prinzipien sind etwa unter ande- rem Handlungs- und Wissenschaftsorientierung sowie Kontroversität.

STANDARD: Was ist mit "Überwältigungsverbot" gemeint?

Sander: Das Überwältigungsverbot ist in Deutschland seit 1976 allgemeiner Konsens. Es besagt, dass es in der politischen Bildung nicht gestattet ist, Schülerinnen und Schüler an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern oder in einer bestimmten Richtung zu indoktrinieren beziehungsweise einseitig zu beeinflussen, sei es durch offenen Druck oder durch einseitige Auswahl von Materialien.

STANDARD: Welche Anforderungen stellt gute politische Bildung an die Lehrerausbildung?

Sander: Notwendig ist ein Fachstudium der Sozialwissenschaften. Dazu sollten Politikwissenschaft, Elemente aus Soziologie und Wirtschaft sowie die Fachdidaktik gehören. In Deutschland gibt es seit den 1960er-Jahren eine eige-ne Fachlehrerausbildung, was sich recht gut bewährt hat.

STANDARD: Sie kritisieren die "Neigung zur Moralisierung politischer Fragen" im Politik-Unterricht. Woher kommt sie?

Sander: Dieses Problem betrifft die politische Bildung vor allem dort, wo Lehrer nicht hinreichend fachlich qualifiziert sind. Sie neigen dann häufig stark dazu, Politik in erster Linie unter moralischen Aspekten zu betrachten. Zwar hat Politik immer auch eine moralische Dimension, aber es gehört auch zum Politikunterricht, Politik nach fachlichen Gesichtspunkten zu untersuchen. Hierzu gehört die schon erwähnte Frage nach Folgen und Nebenfolgen politischer Entscheidungen. Dann zeigt sich oft, dass manches, was auf den ersten Blick moralisch als wünschenswert erscheint, auf längere Sicht problematische Nebenfolgen haben kann. (Lisa Nimmervoll/DER STANDAR-Printausgabe, 24. April 2007)