Innerhalb von fünf Wochen entstand 1937 in einem konzentrierten Rausch das mit seinen Abmessungen von 351 Zentimeter Höhe und 782 Zentimeter Breite größte Werk, das Pablo Picasso jemals malen sollte – "Guernica". Nicht zuletzt aufgrund der Tournee des Bildes durch Europa und Nord-amerika – damit wollte die republikanische Regierung Spenden akquirieren – erreichte es den Status einer, wenn nicht der Anti-Kriegs-Ikone.

Foto: Erich Lessing
Jean-Jacques Rousseau verfiel ins Schwärmen. "In Guernica", schrieb er über die Stadt im spanischen Baskenland, "leben die glücklichsten Menschen der Welt. Ihre Angelegenheiten regeln sie durch eine Körperschaft von Bauern unter einer Eiche, und stets verhalten sie sich klug." Diese Eiche stand auch noch am Abend des 26. April 1937 – mit als Einziges, was von der Stadt, geistiges und kulturelles Zentrum des Baskentums, übrig geblieben war. Seit 16.00 Uhr an jenem Montag, traditionell der Markttag in Gernika, hatte eine deutsche Flugzeugstaffel, unterstützt von 15 italienischen Maschinen, diese Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Drei Stunden lang warfen die Piloten in immer neuen Wellen eine Mischung aus 250-Kilogramm-Splitterbomben und ECBI-Brandbomben ab, die Temperaturen von 2500 Grad Celsius entwickelten. Wer versuchte, der Flammenhölle zu entkommen, wurde aus der Luft mit Maschinengewehren beschossen. "Um 19.45 Uhr", so der englische Historiker Gijs van Heinbergen, "hatte Gernika praktisch aufgehört zu existieren." 1645 Menschen waren tot, 889 verletzt.

Es war nicht der erste Luftangriff der Geschichte, den die deutsche Legion Condor an jenem Tag flog. Doch es war in anderer Hinsicht eine Premiere. Dieses Massaker, für viele die Generalprobe für den zwei Jahre später vom Zaun gebrochenen Weltkrieg, war die erste Bombardierung der Zivilbevölkerung in Europa. Schon die Zeitgenossen sahen den zivilisatorischen Dammbruch in aller Deutlichkeit, allen voran die aus Spanien berichtenden Auslandskorrespondenten, die in den auf der Iberischen Halbinsel tobenden Kämpfen und Wirren des Bürgerkriegs zwischen Republikanern und den faschistischen Putschisten um General Francisco Franco bereits viele Grausamkeiten gesehen hatten. "Der schrecklichste Luftangriff aller Zeiten", kabelte der Reuters-Journalist Christopher Holme an seine Zentrale. Diese Worte brachten die Londoner Evening News bereits am 27. April als Aufmacher in Großbuchstaben auf der ersten Seite. Und in L’Humanité aus Paris wurde einen Tag später der Bericht über das zerbombte Gernika illustriert mit einer Panoramaaufnahme der geisterhaft anmutenden Ruinenstadt und mit Fotografien der zahllosen Toten. Wie so viele andere rang an jenem Tag auch der aus Málaga stammende, republikanisch gesinnte Pablo Picasso angesichts des schieren Ausmaßes der Zerstörung mit der Fassung, als er am Nachmittag im Café de Flore Zeitung las und ihn die Nachricht aus seinem Heimatland erschütterte.

Am 1. Mai hatte er bereits erste Skizzen angefertigt und die Idee einer Atelierdarstellung für das bei ihm in Auftrag gegebene Wandbild für den spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris zugunsten einer Hommage an Gernika fallen gelassen. Innerhalb von fünf Wochen entstand nun in einem konzentrierten Rausch das mit seinen Abmessungen von 351 Zentimeter Höhe und 782 Zentimetern Breite größte Werk, das Picasso jemals malen sollte – Guernica. "Es ist ein schreckliches Bild über Gräueltaten, bei denen sich einem die Haare weiß verfärben würden, begegnete man ihnen im wirklichen Leben", bemerkte eine englische Kunstkritikerin über das in Grau, Schwarz und Weiß gehaltene Bild, in dem das Bildgedächtnis des katalanischen Künstlers seinen Kul-minations- und Kompositionshöhepunkt erreichte.

Aus unzähligen Quellen bediente sich Picasso, von römischen Grabskulpturen über Jacques-Louis David bis zur Freiheitsstatue in New York, von Mathias Grünewald, Rubens, Poussin und Goya bis zu Pressefotografien, kreuzte dies mit seinem idiosynkratischen Stil, Kubismus, dem von ihm geschätzten Mythos um den Minotaurus und seiner Vorliebe für den Stierkampf. Nicht zuletzt aufgrund der sich an die Expo auf dem Trocadero-Gelände in Paris anschließenden Tournee dieses Bildes durch Europa und Nordamerika – damit wollte die republikanische Regierung Spenden akquirieren – erreichte es bald den Status einer, wenn nicht der Anti-Kriegs-Ikone.

Kunsthistorikern gilt es als "Jahrhundertbild" (Max Imdahl). "Guernicaerwies sich als schrecklich hellsichtiges Bild", so Gijs van Hensbergen, der die "Biografie" dieses Gemäldes und seine Wirkung nachgezeichnet hat. "Es schildert", so van Hensbergen weiter, "das moderne Massengemetzel, das nur notdürftig hinter den Ur-Riten des Todes verborgen ist. Jedes Gemeinwesen in der Welt, das Opfer einer erschütternden Gräueltat wurde, ist mittlerweile zum Synonym für das Gemälde Guernica wie für die Stadt Gernika geworden, das brutal misshandelte Herzland der geplagten Basken." Das Bild zeigt das Leid der Opfer und nicht Kämpfende, die aufgerissenen Münder der von Schmerz Zerrissenen und nicht Frontgräben, eine Mutter mit totem Kind in den Armen und nicht Soldaten. Statt planer Propaganda die verletzliche, fragile, gebrochene, von Schmerz und Pein durchtränkte "condition humaine" in Zeiten des totalen Krieges.

Picasso hatte untersagt, das Bild in Spanien auszustellen, solange es nicht wieder eine Demokratie sei. So blieb es, 1939 in die USA gelangt, bis 1981 außerhalb Spaniens und war lange im Museum of Modern Art in New York höchst prominent ausgestelltes Memorial, Prophetie und zugleich Anregung für zahllose Maler wie Francis Bacon und seine Darstellungen schreiender Päpste und gemarterter Leiber, für Jackson Pollock, Robert Motherwell oder Ar-shile Gorky, der sich jahrelang intensiv mit Picasso auseinandersetzte. Gijs van Hensbergen geht zwar in seiner Einschätzung, Picassos monumentales Werk sei der Nukleus der amerikanischen Kunst nach 1945 gewesen, etwas zu weit. Aber: "Auch wenn man verächtliche Bemerkungen über Guernica machte, blieb einem das Bild doch im Hinterkopf haften … Das Bild dieser großen, zerrissenen schwarzen Formen muss im Unterbewusstsein jedes Malers weitergelebt haben." (Thomas B. Hess)

Zerrissene schwarze Formen – das ist der Niederschlag der Kriegsrealität in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Von heroischen Darstellungen eines Mars oder anderen bildungsbürgerlich-abgehobenen allegorischen Darstellungen waren die faktischen Kriege des kriegerischen 20. Jahrhunderts so weit wie nur möglich entfernt.

Im Ersten Weltkrieg fanden sich die eine Kurzbataille erwartenden Soldaten den Worten des Schriftstellers Erich Maria Remarque (Im Westen nichts Neues) zufolge für Jahre auf "eine(r) triefende(n), feuchte(n), ölige(n) Masse Erde" wieder, "in der die gelben Tümpel mit spiralig roten Blutlachen stehen und Tote, Verwundete und Überlebende langsam versinken". Auf die vortizistisch verkrümmten Bilder des englischen Kriegsmalers Wyndham Lewis antwortete sein Landsmann Paul Nash 1918 mit dem Bild Wir schaffen eine neue Welt. Darauf zu sehen: verbrannte Bäume in einer mondartigen Kraterlandschaft, die sich bis an den Horizont erstreckt.

Die Krüppel eines Otto Dix und sein Schützengraben, Max Beckmann und Die Nacht von 1918/19, in den Zwanzigerjahren John Heartfield mit seinen bitter-aggressiven Collagen wie beispielsweise Nach zehn Jahren: Väter und Söhne – ein beleibter General und Kindersoldaten von 1914, die 1924 Gerippe sind, während der General noch immer beleibt und am Leben ist –, alle diese Arbeiten und künstlerischen Aufschreie gehen auf Goyas noch immer schockierenden Zyklus Los Desastres de la Guerra zurück, den Dinos und Jake Chapman kürzlich in die Dreidimensionalität überführten. Zweiter Weltkrieg, Vietnamkrieg, auch der Irakkrieg fanden ihren Niederschlag in der Kunst, in Hans Grundigs Dresden-Bildern, in den Gemälden Leon Golubs oder jüngst in Fernando Boteros Abu-Ghraib-Serie.

"Ich bin dabei gewesen und diese Aufnahmen sind mein Zeugnis davon." Nicht Fotografien von Toten, Verwundeten oder Vertriebenen tauchen als Erstes auf der Website des Amerikaners James Nachtwey auf, sondern dieser lakonische Satz. Nachtwey hat zahllose Kriege dokumentiert. Seine Bilder sollen Antidot gegen die Gewalt sein. In seinem dennoch von Hoffnung geprägten Ansatz trifft er sich mit Pablo Picasso, der 1944 erklärte, dass, wenn der Frieden in der Welt gewonnen haben werde, der Krieg, den er in Guernica dargestellt habe, eine Sache der Vergangenheit sei. Das Außerordentliche von Guernica ist, so Gijs van Hensbergen, "dass das Bild unter dem Gewicht seiner eigenen Omnipräsenz nicht nachgibt und nicht untergeht. Nach wie vor beschwört es die Albträume unserer Vergangenheit herauf und entwirft zugleich ein fürchterliches Szenario von Zukünftigem." (Alexander Kluy / ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 20.04.2007)