Puerto Montt im Süden.
Foto: Susanne Steinacher
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Foto: Susanne Steinacher
Eigentlich besteht Chile nur aus Rand: ein schmaler Streifen Land auf der dem Pazifik zugewandten Seite der Anden. Chile bildet nicht nur den Rand Südamerikas, sondern kann darüber hinaus den legitimen Anspruch erheben, der linke Rand aller Landmassen der Erde zu sein, jedenfalls wenn man die Oberfläche des Planeten wie allgemein üblich mit dem Atlantik im Zentrum abbildet.

Auf der linken Seite von Chile ist die Welt zu Ende. Aus diesem Grund kommt den Orten, die an dieser Kante liegen, besondere Bedeutung zu, insbesondere jenen unter ihnen, die mit einem kompetenten Hafen ausgestattet sind und damit theoretisch die Möglichkeit eröffnen, die Erde, wie wir sie kennen, nach links zu verlassen. Zum Beispiel die Städte Valparaiso, Puerto Montt und Coquimbo - wer schon immer vorhatte, den Kopf durch die Begrenzung der Welt zu stecken, der muss dorthin fahren.

Die genannten drei Städte ähneln einander in drei wichtigen Aspekten: Zum einen sind alle drei vorwiegend von Hunden bevölkert, von denen die meisten humpeln. Zum anderen sind die Orte von oben bis unten mit Staub bedeckt, zudem laut und roh, und überall fliegen Plastiktüten durch die Straßen. Schließlich sind sowohl Valparaiso als auch Puerto Montt und Coquimbo überwiegend dreidimensional eingerichtet.

Vom Hafen ausgehend, stapeln sich die Häuser in alle möglichen Richtungen, wobei die grobe Struktur vorgegeben ist durch die Hänge der Küstenkordillere, eines steilen Vorgebirges, das sich parallel zu den Anden über mehrere tausend Kilometer von der Atacama-Wüste im Norden bis hinunter zu den Regenwäldern im Großen Süden zieht.

Valparaiso, in der Mitte Chiles gelegen, kann als Prototyp für diese Art Stadtmorphologie dienen. Viele Reiseführer vergleichen die großräumige Anlage Valparaisos mit einem Theater. Wenn das wirklich stimmen soll, dann muss man wohl den Hafen als Orchestergraben bezeichnen, was in Anbetracht seines Lärmens noch einigermaßen realistisch ist. Aber die Bühne kann dann nur der Stille Ozean sein, obwohl auf ihm meist überhaupt nichts geschieht und es zudem die Hälfte der Zeit stockdunkel ist.

Das Bühnenbild muss wohl vor langer Zeit umgekippt sein, versunken im Atacama-Graben, der tiefen Meeresspalte vor der Küste Chiles. Wegen der offensichtlichen Dysfunktionalität des Theaters Valparaiso muss man sich ernsthaft fragen, warum so viele Häuser jahrelang auf den Rängen ausharren.

Um herauszufinden, welche Funktion Valparaiso und artverwandte chilenische Hafenstädte wirklich für die Weltordnung übernehmen - wenn es nicht die eines Theaters ist -, muss man das Geschehen auf eindeutig viel größeren Skalen betrachten. Erhebt man sich aus dem Durcheinander einer solchen Hafenstadt, bis man eine Höhe erreicht, aus der das gesamte Chaos dort unten nicht mehr in seine Bestandteile aufzulösen ist, so sieht die Ansiedlung wie ein in der Mitte zerbrochenes Vogelnest aus, das sich verzweifelt ans Gebirge klammert.

Es scheint so, als hätte jemand den Kontinent unsauber entlang der Kordillere abgeschnitten. Dabei blieben einige Vogelnesthälften zurück, aus denen lautes, vielstimmiges Quäken quer über den ansonsten Stillen Ozean hallt. Fährt man noch höher, so verliert die Stadt jegliche Struktur und wirkt wie ein halbrunder Lautsprecher, der außen am Gebirge angebracht ist. Womöglich handelt es sich bei Städten wie Coquimbo, Valparaiso und Puerto Montt nur um verzweifelte Versuche der Berge, sich dem Pazifik und der darunter befindlichen Nazca-Platte mitzuteilen, derselben Platte, die in ihrer tektonischen Ostbewegung Südamerika unaufhörlich anhebt und so die Anden erst hervorgebracht hat. Welche Botschaft sendet wohl die Berg gewordene Wirkung an deren Ursache in der Tiefsee?

Möglich erscheint es, dass es sich um Klagen über die oft unvorteilhaft aussehenden Stadtbewohner handelt. Es handelt sich dabei durchwegs um halbwilde Bastarde, bei denen jeder Körperteil aus einem anderen Hundevolk zu stammen scheint. Ihr Gemeinwesen erscheint klar dreigeteilt. Ein Drittel von ihnen ist sozial zurechnungsfähig. Diese so genannten Vernunfthunde bewachen pflichtbewusst das ihnen zugewiesene Grundstück, bellen sorgsam, wenn man an ihnen vorbeigeht, greifen ansonsten jedoch nicht ins Weltgeschehen ein.

Das zweite Drittel hat das Konzept "Revier" nicht verstanden und verteidigt die anliegende Straße gleich mit. Unklug und ineffizient, ja, aber was für ein Arbeitsethos! Die letzte Gruppe schließlich bellt überhaupt nie, sondern ist auf penetrante Art ausschließlich an Sex interessiert. Man wird diese hedonistischen Gesellen nur los, wenn man die Straße verlässt, etwa um in einen Bus zu steigen.

Letzteres ist in Chile ohnehin eine gute Idee, denn die großen Busbahnhöfe bieten irrsinnig viele Möglichkeiten, zu neuen Rändern vorzudringen, die so herrliche Namen wie Coyhaique, Iquique, Futaleufu, Chonchi, Antofagasta oder Copiapo tragen.

Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass jede der drei Städte eine andere Nachricht zu übermitteln versucht, die mit Hunden womöglich gar nichts zu tun hat. Valparaiso zum Beispiel jammert vermutlich über die neumodischen Aufzüge, mit denen man im 19. Jahrhundert die steilen Hügel der Stadt ausgerüstet hat. Meist beginnen sie auf einer verschmutzten Rampe in einem Hinterhof und enden ebenso, nur dass die zweite Rampe hundert Meter höher frei über dem Abgrund hängt. Dazwischen verlaufen verrostete Zahnreihen, an denen entlang die Aufzüge, einfache Blechkisten, nach oben und unten rumpeln. Mit jedem auf diese Weise leicht gewonnenen Höhenmeter beklagt sich der Berg quietschend und knirschend über den Verlust seiner Unbezwingbarkeit.

Coquimbo dagegen hat ganz andere Probleme. Die Stadt liegt knapp neben dem Valle Elqui, seit dem Eintritt ins Zeitalter des Wassermanns angeblich das magnetische und außerdem sexuelle Zentrum der Erde. Daher ziehen Wahrheitssucher und Wahrsager direkt vom Flughafen La Serena per Shuttle-Bus zum Valle Elqui, ohne Coquimbo eines Blickes zu würdigen.

In seiner Wut über diesen deprimierenden Zustand legte sich Coquimbo einige missglückte Wahrzeichen zu, die man nur als stumme Hilfeschreie interpretieren kann - zum Beispiel ein neunzig Meter hohes Betonkreuz, das auch noch auf dem höchsten Berg der Stadt errichtet wurde, so dass es nur bei extrem schlechtem Wetter zu übersehen ist. Schlechtes Wetter jedoch ist in Coquimbo selten.

Das zweite Anzeichen magnetischer Frustration findet man leicht, wenn man sich der Stadt von Norden nähert. In unmittelbarer Nähe der Stelle, an der einst Charles Darwin am Strand übernachtete, liegt heute der unhandliche, verrostete Rumpf des deutschen Fischereischiffes "Margot Maria Stengel", das in den 1980er-Jahren hier aufgegeben wurde. Ein merkwürdiger Zufall will es, dass ein norwegisches Segelschiff namens "Coquimbo" im Jahr 1909 ebenfalls auf Grund lief, allerdings nicht in Chile, sondern in Palm Beach in Florida.

Puerto Montt schließlich liegt im Gegensatz zu den beiden anderen Städten nicht nur am Rand, sondern in einer Ecke der Welt, nämlich am südlichen Ende des einigermaßen zivilisierten Chile und fast schon im patagonischen Regenwald. Darum muss es nicht nur dem Meer übermitteln, was das Gebirge denkt, sondern außerdem dem Wald, was das Meer denkt, und umgekehrt. Puerto Montt versucht mit dieser zusätzlichen Dolmetschertätigkeit klarzukommen, indem es Gerüche als Kommunikationsmittel einsetzt, vorwiegend nach allem möglichen Meeresgetier, das Darwin vermutlich gern gesehen hätte. Selbst wenn man kein Wort versteht, das unaufhörliche Durcheinandergerede von Berg, Meer und Wald lässt Puerto Montt zu jeder Tageszeit interessant erscheinen. Wenn alle Ecken der Welt so wären wie Puerto Montt, nie wäre das Prinzip Ecke derartig in Verruf geraten.

Hier die einfachste Möglichkeit, um in Chile endlich einmal seine Ruhe zu haben: Man laufe in Valparaiso zur Bootsanlegestelle am Muelle Prat und kaufe sich einen Platz auf einem der kleinen Boote, die alle paar Minuten zu Hafenrundfahrten aufbrechen. Es ist ein geräumiger Hafen, der zwar mit der Fertigstellung des Panamakanals seine Vormachtstellung im pazifischen Raum einbüßte, aber immer noch vollgestellt ist mit zahlreichen großen Metalldingen. An einigen Stellen ist der Blick frei nach Westen auf die große, ruhige Wasserebene, die vermutlich überhaupt kein Ende mehr nimmt. Für einige Sekunden ist es völlig still. Und mit etwas Glück erscheint ein fremdartiges, schwimmendes Hundetier mit großen Augen, Flossen und einem ansehnlichen Bart - der erste Vorbote von der anderen Seite des Universums. ( Aleks Scholz/Der Standard/Rondo/ 20.4.2007)