Markus Reiter ist Geschäftsführer des Vereins neunerHAUS (Verein zur Errichtung und Führung von Wohnhäusern für obdach- und wohnungslose Menschen). Er war unter den Initiatoren jener Privatinitiative, aus der der Verein neunerHAUS entstanden ist. Seit 2004 widmet sich der gebürtige Gmundner Vollzeit seiner Arbeit für das neunerHAUS.

Foto: neunerHAUS
derStandard.at: Wie ist es zur Projektidee 'Team neunerHAUSARZT' gekommen?

Reiter: Wir haben die Notwendigkeit zu langfristiger medizinischer Betreuung in der Auseinandersetzung mit Menschen, die obdachlos oder wohnungslos sind, erfahren. Konkret haben wir durch unsere Arbeit in unserem ersten Haus in der Hagenmüllergasse im dritten Bezirk, das wir mit 60 obdachlosen Menschen besiedelt haben, erlebt, dass die Menschen oft alkoholkrank sind und viele Krankheiten mit sich bringen, die nicht verheilt sind. Wenn sie einen Wohnplatz bekommen, wo sie sich wohl fühlen, bricht der Überlebenskampf ab und Krankheiten auf. Jeder kennt das: durch Stressabbau wird man häufig krank.

Die Erkenntnis daraus war: Wir brauchen eine eigene medizinische Versorgung. Notwendig ist eine Betreuung, die auf die speziellen Bedürfnisse eingeht und zum Patienten geht. Das war die Idee zum neunerHAUSARZT.

derStandard.at: Wie funktioniert das 'Team neunerHAUSARZT'?

Reiter: Wir haben vier bei unserem Verein angestellte ÄrztInnen, von denen immer eine/r fix in einem Haus ist. Sie besuchen derzeit neun Häuser der Wohnungslosenhilfe und erreichen damit 50 Prozent aller Bewohner. Es wird von Monat zu Monat mehr, Einrichtungen kommen dazu.

Ganz eng arbeiten wir dabei mit dem Betreuungssystem in den jeweiligen Häusern zusammen - es gibt den Austausch mit den Sozialarbeitern vor Ort. Auch die Bürokratie wird ein bisschen abgefangen, wir schauen, dass jemand von der Einrichtung zum Beispiel einen Krankenschein organisiert. Das geschieht um die Leute zu entlasten und heißt nicht, dass wir sie aus der Verantwortung lassen wollen, aber sie brauchen einfach die Unterstützung.

derStandard.at: Welche Ärzte arbeiten im Team mit, welche Kenntnissse sind für die Arbeit wichtig?

Reiter: Es sind erfahrene Allgemeinmediziner, die auch mit sozialen Randgruppen Erfahrung haben mit einer sehr breiten medizinischen Ausbildung. Unsere ÄrztInnen haben unter anderem auch schon in anderen sozialen Einrichtungen gearbeitet wie zum Beispiel dem Luisebus (Bus zur Akutversorgung von Wohnungslosen in Wien, Anm.), in der Justizanstalt oder dem 'Ganslwirt'(sozialmedizinische Drogenberatungsstelle, Anm.). Auch Zusatzqualifikationen in der Notfallsmedizin, Ganzheits- und Sozialmedizin braucht man dazu.

derStandard.at: Für wohnungslose Menschen gibt es quasi kein spezielles medizinisches Angebot, sind sie nicht versichert?

Reiter: Die Menschen sind zum Großteil versichert, zum Beispiel aus der Arbeitslosenversicherung heraus. Sie waren ja meistens einmal erwerbstätig. Auch jene, die ausschließlich auf die Sozialhilfe angewiesen sind, bekommen theoretisch fast alle Leistungen der Sozialversicherung. Es ist aber stigmatisierend für sie, weil man keine E-Card hat, sondern mit einem gelben Krankenschein zum Arzt geht. Damit ist zusätzlich auch noch eine bürokratische Hürde, nämlich der Gang zum Sozialamt, verbunden.

derStandard.at: Welche Probleme sind in der Praxis aufgetaucht, wenn es darum ging medizinische Hilfe zu holen?

Reiter: Es geht nicht um akute Hilfe sondern um langfristige medizinische Betreuung, denn die Menschen sind chronisch krank. Wir haben in unserem Wohnhaus neunerHAUS Hagenmüllergasse zum Beispiel Absagen bekommen, wenn wir einen Hausbesuch gebraucht hätten. Das ist keine Böswilligkeit der Ärzte sondern auch eine Überforderung des Gesundheitssystems. Wir haben gemerkt, dass im Konkreten der niedergelassene Arzt um die Ecke überfordert ist. Die Ärzte haben einen ökonomische Druck: Sie werden pro Patient bezahlt und niemand fragt wie lange sie dafür brauchen.

derStandard.at: Welche speziellen Bedürfnisse bringen wohnungslose Menschen mit zum Arzt?

Reiter: Diese Menschen bringen Auffälligkeiten mit und ihre Bedürfnisse sind viel intensiver. Man braucht vor allem Zeit um mit ihnen über das zu reden, was eigentlich ihr gesundheitliches Problem ist. Andererseits hat sich auch gezeigt, dass die Betroffenen durch das Leben auf der Straße das Bewusstsein für den eigenen Körper, das Gespür für die eigenen Bedürfnissen verloren haben. Das heißt, sie nehmen oft nicht wahr, dass sie schwer krank sind, kommen aber wegen eines Hustens zur Sprechstunde. Die Menschen sind unglaublich mehrfachkrank – sie haben manchmal fünf bis zehn Krankheitsbilder.

derStandard.at: Was ist das große Ziel, das hinter dem Gesundheitsprojekt steckt?

Reiter: Wir helfen mit Wohnplätzen, mit Sozialarbeit und ärztlicher Betreuung. Das Ziel ist, dass diese Menschen wieder eigene Ziele verfolgen, einen Job, eine eigene Wohnung finden. Das Problem ist, dass sie oft so krank sind, dass die ganze Sozialarbeit und der Wohnraum nicht helfen, wenn sie nicht gesund werden. Wir haben das Projekt auch so konzipiert, dass es ganzheitlich ist, also nicht nur die allgemeine Medizin sondern wir haben auch die psychosoziale Ebene mit hinein genommen, die sehr wichtig ist.

derStandard.at: Hat sich der Gesundheitszustand der Menschen denn verbessert?

Ja, das zeigt sich daran, dass die Patientenzahlen phasenweise auch zurückgehen. Manche kommen nicht mehr, weil es ihnen wieder besser geht. Wir wollen die Menschen auch nicht nur an uns binden, für uns ist es auch ein Erfolg, wenn Patienten wieder zu ihrem Hausarzt außerhalb gehen.

derStandard.at: Wer finanziert das Projekt?

Reiter: Wir haben einen Vertrag mit der Wiener Gebietskrankenkasse. Die Leistungen, die wir daraus erhalten, werden pro Patient berechnet und machen ungefähr 50 Prozent des Aufwandes aus. Das Projekt ist jetzt für eineinhalb Jahre definiert. 30 Prozent sind als Projektförderung vom Fonds Soziales Wien. Leider sind uns 20 Prozent Eigenfinanzierung geblieben, die wir aus Spenden auftreiben müssen. Medizinische Leistung ist teurer als Sozialarbeit, daher geht es da um sehr viel Geld.

derStandard.at: Die eineinhalb Jahre Projektzeit sind bald vorbei. Wie sieht denn die Zukunft aus?

Reiter: Wir sind gerade dabei mit dem Fonds Soziales Wien und der WGKK zu verhandeln und werden die Ergebnisse unserer Projektevaluation präsentieren. Wir hoffen, dass das Projekt nicht nur weitergeführt wird, sondern als Dauereinrichtung in der Wiener Wohnungslosenhilfe angeboten wird.

Wir arbeiten an der Realisierung eines Grundrechts für die gesundheitliche Versorgung aller Menschen. Gesundheit ist das höchste Gut und dieses Recht muss für alle Menschen ermöglicht werden. (Das Interview führte Marietta Türk)