Leben in Europa heute ist weniger gewalttätig, leidenschaftlich, unsicher, kurz und wild als etwa im Irak oder Sudan. Sterben ist meist weniger qualvoll und schmerzlich, die Ängste vor Strafe nach dem Tode schwächer als zu Mozarts Zeiten. Doch wachsen, trotz stilleren Todes, Todesangst und Einsamkeit der Sterbenden?

Das Leben wird immer länger, Sterben immer weiter hinausgeschoben: Die Lebenserwartung hat sich seit den Zeiten unserer Großeltern verdoppelt, seit Goethe fast verdreifacht, das Dritte Lebensalter wird von 95 Prozent der Frauen erreicht und dauert im Mittel 27 Jahre; für die Hälfte auf der Sonnenseite des Lebens deutlich länger. Eine heute 80-Jährige hatte bei Geburt nur winzige Chancen auf jenes Alter, zu dem längst die Mehrheit Gleichaltriger gesund am Leben ist.

Sterben erfolgt nicht nur immer später, sondern auch immer seltener: Während bis zu Freuds und Schieles Zeiten der Tod ständiger Begleiter überlebender Geschwister, Ehepartner, Eltern und Kinder war, machen wir heute oft jahrzehntelang keinerlei Überlebenserfahrung. Und es gibt mehr Sicherheit vor Schicksalsschlägen wie Krankheit, Unfällen, Naturkatastrophen, Gewalt oder plötzlichem Tod als je zuvor.

Höhere Sicherheit und Langlebigkeit machen Lebensgefahren und Sterben vorhersehbarer, aber als letztlich unkontrollierbar auch unerträglicher. Je unwahrscheinlicher und seltener der vorzeitige Tod, umso schockierender, skandalöser, wenn er doch nicht verhindert werden kann.

Nach Elias ist nicht der Tod, sondern das Wissen um den Tod ohne Rituale des Sterbens problematisch. Sterben ist oft ein längerer Abschied, ein isolierender Verfall und eine frühe Vereinsamung durch Gebrechen, Siechtum und stille Aussonderung Alternder und Sterbender. Der Anblick Sterbender und Toter ist nicht mehr alltäglich, der Tod wird hinter die Kulissen der Gesellschaft verdrängt. Daher die weit verbreitete Unfähigkeit zu Trauer und Sterbebegleitung, zu Hilfe und Zuneigung beim letzten Abschied. Unfähigkeit zu einfühlsamer Sterbebegleitung spiegelt eigene Todesfurcht, kindliche Unsterblichkeitsfantasien und Schuldängste, die Vorstellung vom Tod als Strafe für unzulängliche Kindesliebe oder zwiespältige Gefühle zu geliebten Menschen.

Ein vertrauter, "gezähmter Tod" (Ariès) verschwindet. Doch ein verdeckter, weniger allgegenwärtiger, unvertrauterer Tod flößt offenbar weit mehr Angst ein, bis hin zum Tabu, ihn beim Namen zu nennen. Magisches Denken über den Tod ist auch bei uns postmodernen Menschen allüberall.

Über Sterben, Tod, Grab, Vergänglichkeit wird nur noch hoch zensuriert gesprochen. Der früher alltägliche Anblick von Leichen ist extrem selten geworden. Die Verschleierung des Sterbens und des Todes schon vor Kindern führt später bei Erwachsenen zu schmerzlicher Verlegenheit der Lebenden in Gegenwart eines Sterbenden oder Trauernden. Wir wissen oft nicht recht, was zu sagen. Doch Spracharmut, Peinlichkeitsgefühle und Fluchtimpulse verstärken die Isolierung der Sterbenden von (Über-)Lebenden.

Unfähigkeit zu starker emotionaler Anteilnahme ohne Verlust von Selbstkontrolle beruht auch auf dem Fehlen verbindlicher Rituale und glaubwürdiger Gebärden - im Gegensatz zum Code der Liebe. Gerade beim letzten Abschied droht Liebe zu verstummen. "Gott ist tot - und mir ist auch schon ganz mies", feixt Woody Allen unsere Todesangst hinweg. Religiöser Tyrannei entronnen, wartet auf uns Postmoderne kein gelobtes Land und keine österliche Auferstehung. (Bernd Marin/DER STANDARD, Printausgabe, 2.4.2007)