Fassadenattrappe für die schöne neue Shoppingwelt. Oben die rekonstruierte Sandsteinkulisse des kriegszerbombten und Anfang der 60er-Jahre abgerissenen Stadtschlosses Braunschweig.
Unten die ECE-Malls in Passau, Klagenfurt, Hamburg und das Braunschweiger Schlossarkaden-Innenleben.
(Fotos: ECE (4), EPA/Lux)

Die historische Stadt - sie ist unser europäisches Erbe. Und ja! - wir sind unendlich stolz darauf. Denn wir sind ein Kulturkontinent, und aus der Höhe dieses Erbes pflegen wir arrogant herabzublicken auf die amerikanische Mall-Unkultur an den Peripherien der US-Städte, auf diese traditionslosen Shoppingtempel stumpfen Fritten- und Fetzenkonsums.

Denn wir Europäer sind ganz anders, wir shoppen nicht in Tempeln, sondern in Schlössern - oder der zumindest in Konstruktionen, die vorgeben, solche zu sein.

Fiasko in Braunschweig

Wie zum Beispiel in Braunschweig, einer Stadt großer Tradition und provinzieller Gegenwart. Dort wurde vergangenen Donnerstag eines der absurdesten Projekte der europäischen Baugeschichte eröffnet: Wo einst das klassizistische Stadtschloss stand, erhebt sich nun, in Sandstein rekonstruiert, dessen Fassade. Ein denkmalpflegerisches Fiasko. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein gewaltiges Shopping-Zentrum mit etwa 35.000 Quadratmetern, knapp 15.000 weitere Quadratmeter sind feigenblattartig städtischen Kultureinrichtungen wie der Stadtbibliothek vorbehalten. Die zuständigen Stadtplaner schwärmen reichlich unverfroren von der Symbiose zwischen Hochkultur und Kommerz.

Dabei war das Projekt von Beginn an höchst umstritten. Eine "skandalöse Vermischung von Kulissenarchitektur und Kommerznotwendigkeiten", ortete wutschnaubend der Kunsthistoriker Nikolaus Bernau, ein "Königreich namens Konsum" der Zeit-Architekturkritiker Hanno Rauterberg. "Ganz Europa lacht über uns", sagt der Braunschweiger Architekt Holger Pump-Uhlmann.

Das Unternehmen, das hier im Dienste der Rendite Rekonstruktionsarchäologie betrieb, ist Europas größter Shoppingmall-Spezialist. Die Hamburger ECE Projektmanagement G.m.b.H. & Co. KG setzt nach eigenen Angaben mit 90 Malls und 9200 Mietpartnern 10,4 Milliarden Euro um. 20 weitere Projekte befinden sich in der Pipeline. Dazu gehören zwei in Österreich: Graz soll bis 2009 mit der StadtGalerie in der Annenstraße ein "neues Herzstück" bekommen, und in Wien wird die ECE die "Projektoptimierung und Vermietung" des denkmalgeschützten Westbahnhofs übernehmen. Geplanter Start ist 2008. Die City-Arkaden in Klagenfurt wurden bereits im Vorjahr eröffnet.

"Neues Wahrzeichen"

ECE-Boss Alexander Otto, 39-jähriger Spross der gleichnamigen Handelskette, bezeichnet die Shoppingmall zu Braunschweig nun als "eines der spektakulärsten Wiederaufbauprojekte in Deutschland" und will die Kulissenschieberei als "neues Wahrzeichen" der Stadt und als "Schloss für alle Bürger" verstanden wissen. Eine Shoppingmall hinter schamlos gefälschten Fassaden als Wahrzeichen im Herzen der historischen Stadt zu empfinden bedeutet den kulturellen Niedergang der Sonderklasse.

Den Hamburger Einkaufsprofis ist - auf den ersten Blick - kaum ein Vorwurf zu machen. Sie gehen höchst erfolgreich und professionell ihrem Geschäft nach. Erstaunlich ist allerdings, wie bereitwillig sich Stadtplaner und Stadtverantwortliche dem Kommerzdenken unterwerfen. Denn sie handeln mit einem Gut, das sie lediglich verwalten, das ihnen aber nicht gehört: mit der Aura und der Authentizität der oftmals über Jahrhunderte gewachsenen Stadt. Sie operieren quasi mit der Axt am offenen Herz.

So sieht das auch eine ganze Riege von Architekten, Stadtplanern und Kunsthistorikern, die angesichts des heuschreckenartigen Abgrasens der Innenstädte vor Kurzem das ausgesprochen empfehlenswerte Buch Angriff auf die City (Verlag Droste) herausgebracht haben.

Mitherausgeber, der Architekt Walter Brune, der Erfahrung mit behutsam implantierten Einkaufszonen im gewachsenen Ensemble hat und deshalb genau weiß, worum es geht, schreibt darin: "Auch die Investoren, die euphorisch erklären, sie wollten mit ihren Projekten die Innenstädte beleben, sind nichts anderes als Pharisäer, die in Wirklichkeit genau das Gegenteil des Gesagten verursachen, und sie wissen dies. Um ihre Konzerne immer größer wachsen zu lassen, werden die Zentren der Innenstädte skrupellos von guten Einzelhandelsgeschäften leergefegt."

Anzeigenkampagnen "gehören zum Handwerk"

Unappetitlich sei, so Brune, auch die Strategie der öffentlichen Meinungsbildung über Anzeigenkampagnen, also die "geübte Praxis, in einer örtlichen Zeitung über einen Zeitraum von zwei Jahren nach der Eröffnung bis zu 500 ganzseitige Anzeigen für eine positive Berichterstattung zu schalten". Denn: "Auch teure Anzeigenkampagnen gehören immer zum Handwerk der Projektentwicklung." Gegenüber der Wochenzeitschrift Die Zeit meinte der 80-jährige Architekt: "Ich bin ein Wissender, und ich bin wütend. Die Politiker machen Städte, die in 1000 Jahren gewachsen sind, in wenigen Jahren kaputt."

Tatsächlich hat sich anhand anderer neuer innenstädtischer "Herzen" erwiesen, dass traditionelle Einkaufsstraßen nach deren Implantation deutliche Pulsverlangsamungen erfahren mussten. Nach der Eröffnung des ECE-"Schlosspark-Zentrums" in Schwerin musste laut einer Studie der Universität Greifswald der umliegende Einzelhandel Umsatzeinbußen von durchschnittlich 39 Prozent hinnehmen. Die Leerstände in der Innenstadt verdoppelten sich innerhalb von zwei Jahren auf 6800 Quadratmeter.

Es erstaunt nicht weiter, dass die Otto-Tochter die Publikation "Angriff auf die City" als Frontalattacke auf sich selbst empfand und mit einer stattlichen Riege von gleich zehn Anwälten gegen eine Anwältin des Verlags zur Klage schritt. Von 58 strittigen Punkten bekam man jedoch lediglich in sieben Recht. Teilweise handle es sich dabei allerdings um Sachverhalte, die sich während der Drucklegung verändert hatten, gibt Mitherausgeber und Architekt Holger Pump-Uhlmann zu bedenken. In seinem Kapitel über das Braunschweiger Stadtschloss schreibt er: "Die Bebauung des Schlossparks mit einem 800.000 Kubikmeter großen Bauvolumen sprengt den vorhandenen städtebaulichen Maßstab Braunschweigs und beeinträchtigt die Wohn- und Lebensqualität der in Parknähe lebenden Menschen." Das gesamte Bauunterfangen war von diversen Prozessen begleitet, die jedoch allesamt abschlägig behandelt wurden, was, wie der Architekt meint, das "Rechtsempfinden vieler Bürger der Stadt schwer verletzt" habe. Laut einer Umfrage im Jahr 2005 hatten sich 71 Prozent der Braunschweiger gegen das Projekt ausgesprochen, lediglich zwölf Prozent befürworteten es. Die Studie, so Pump-Uhlmann, wurde wohlweislich unter Verschluss gehalten.

Übrigens hatte es zu Beginn sogar einen Architekturwettbewerb für die Braunschweiger-Schloss-Expedition in die Vergangenheit gegeben, den die renommierten Architekten Grazioli-Muthesius gewannen. Heute ist von ihnen nirgendwo mehr die Rede.

Offene Zukunft des Westbahnhofs

Wie die Zukunft des denkmalgeschützten Wiener Westbahnhofs ausschauen wird, dessen Umfeld ebenfalls nach den Resultaten eines längst gelaufenen Wettbewerbs entwickelt werden soll, bleibt derweil offen. Neumann & Steiner hatten mit ihrem Entwurf überzeugt, laut Heinz Neumann laufen die Gespräche mit der ECE derzeit bereits auf Hochtouren und seien als "höchst professionell" zu bewerten.

Abschließend darf bemerkt werden, dass die von der Architekturgilde oft als zu rigid, zu streng, zu altmodisch beurteilten heimischen Denkmalschützer tatsächlich nicht kräftig genug unterstützt werden können. Denn wenn schon nicht die Stadtplaner, so haben wenigsten sie bis dato dafür gesorgt, dass ähnliche Fiaskos, wie sie manche bundesdeutsche Stadtzentren in jüngerer Vergangenheit hinnehmen mussten, vermieden wurden. (Ute Woltron, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.3./1.4.2007)