Es ist ein "Tag im Spätsommer am größten oberitalienischen See, dort wo es sich nach Süden weitet, ein Garten mit Olivenbäumen". Der "Prinzipal" aus Bodo Kirchhoffs gleichnamiger Novelle, der an seinem 64. Geburtstag mit seinem Enkel eine Bootstour unternimmt, hat Dreck am Stecken und "ein Haus in bevorzugter Lage": Der Gardasee, an dem im Übrigen auch der Schriftsteller häufig wohnt, dient hier als "gebührenfreie Kulisse" – nicht nur für den lebenstechnischen Frühherbst. Denn der Impressionismus schöner, banaler wie signifikanter Augenblicke, der diesen Text beherrscht und sich gegen Ende kirchhöffisch zu einem wahren Rausch zusammenballen wird, erklärt sich nicht nur aus dem satten, von Geld getränkten Feuchtbiotop des Protagonisten oder aus der Effektsicherheit des routinierten Autors.

Dass der Text gleichsam wie an einer Blätterkette von ins Wasser gefallenen Eindrücken haftet, hängt auch damit zusammen, dass der eigentliche Erzähler die Videokamera ist, die der 18-jährige Enkel Vigo bedient und die am Ende nicht ganz unbeabsichtigt in den See geworfen wird. Die Pointe ist, dass dabei nicht alles notwendigerweise untergehen muss.

Der "Prinzipal" gibt sich als Selfmademan, Sohn eines Bademeisters und verhinderter Schauspieler, der in der Wirtschaft seine wahre Bühne gefunden hat. Dort bekommt er "schon bald durch die Art, mit der [er] Ideen durchsetzte, [s]ein Gespür für das Menschliche, ob bei Politikern oder bei Vorständen, vor allem aber aufgrund [s]einer italienischen Sitten und dem Sinn für Applaus den Beinamen Principale." Zum Zeitpunkt der Handlung freilich kann der Protagonist nicht einmal mehr auf den Beifall seines Enkels zählen. Durch den so genannten Salsa-Skandal rund um Untreue, Bestechung und Prostitution in die Anonymität seines Privatlebens gestürzt, lamentiert er über Leben und Frauen, während Vigo meist schweigend mitfilmt.

Eine Konstellation, die irgendwie an Thomas Bernhard, den österreichischen Meister im Langstrecken-Monolog, erinnert – nur ein wenig medialer, denn der im Camcorder festgehaltene Prinzipal trägt auch Züge, die an den legendären (und ebenso gestürzten) VW-Personalchef Peter Hartz gemahnen, der den Arbeitslosengesetzen Deutschlands seinen Namen lieh.

Bei Kirchhoff ist es allenfalls ein Sommertag mit Verzögerung, wo der erfahrene Leser auf das "unerhörte Ereignis" warten muss, das Goethe zufolge die Novelle als Genre ausmacht. Wie auch der Prinzipal so schön mit Tschechow feststellt – ohne auf den Namen zu kommen – , wird in einem soliden literarischen Text eine Waffe, die einmal auftaucht, später auch abgefeuert. Im literarischen Gardasee Kirchhoffs wird hingegen die aufs Boot mitgenommene Pistole zum "red herring" – und fällt wie einiges andere ins Wasser. "Gute Romane", ruft der Prinzipal einmal aus, "sind Gradmesser für das eigene Leben: Gibt es einen Faden, eine Geschichte, einen Höhepunkt oder nur Episoden?"

Zu ihrem eigentlichen Dreh bedarf Kirchhoffs Novelle eines Deus ex Machina – einer schönen, unbekannten Drachenseglerin, die vor dem Boot aus dem Himmel stürzt, vom Enkel gerettet und halb tot unter Überschreitung etlicher Körpergrenzen trockenfrottiert wird: "Versuch, die Person ins Boot zu ziehen, aus dem Mund tritt wässriger Schaum; Gewicht etwa fünfzig Kilo, schlanke Figur, Haarfarbe schwarz. Es ist siebzehn Uhr zwölf." Nach einiger sexueller Belästigung durch den Enkel und Skandalangst beim Großvater wird dieser Körperfund zum kompromittierenden Ärgernis, das es in der Männerlogik des reichen See(len)anrainers zu entsorgen gilt – ehe Vigo und der Prinzipal an Abendessen und die Wiedervereinigung mit shoppender Mutter und Großmutter denken dürfen. Der Rezensent indes muss unwillkürlich an die ewigen Verse der NDW-Gruppe Extrabreit ( Der Präsident ist tot ) denken, die er weiland zu Waldheims Zeiten zu hören pflegte: "Die Bilder wackeln / da ist die Zeitlupe / wir sehen, wie er wankt und stürzt." Kirchhoff setzt mit dieser Novelle seine Suche nach dem unerträglich Schönen fort und wird damit seine Fans wohl nicht enttäuschen. Als Film wäre Der Prinzipal durchaus in der Lage, das mystisch prekäre Ungefähr eines solchen Sommertags wiederzugeben. Als Text bleibt er – von einigen wohlsortierten Formulierungen abgesehen – zumindest zunächst aber ziemlich farblos. Ein merkwürdiger Anreiz, die Novelle nach dem Ende gleich noch einmal zu beginnen, um wie bei einem Krimi hinter den Sinn dieses seltsamen Tages zu kommen.( Clemens Ruthner / ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 31.3./1.4.2007)