Nach dem EU-Fest ist der internationale Streit um die Zukunft des Verfassungsprojektes und der Institutionen voll entbrannt. Die deutsche Presse spekuliert bereits über ein mögliches Scheitern auf dem nächsten Gipfel am 21. Juni und damit über die Gefährdung des in der "Berliner Erklärung" genannten Schlusstermins von 2009 für die Reform. Bis zur Wahl des Europaparlaments soll die neue Grundlage für die EU stehen, unabhängig davon, ob man sie "Verfassung" oder "Grundvertrag" nennt.

Auf negative Stellungnahmen der tschechischen und polnischen Präsidenten (Klaus: "Das ist nur ein Traum.") antworten nun zum ersten Mal einflussreiche EU-Parlamentarier und Politiker ebenso offen mit der Forderung "Neinsager sollen austreten."

Führende EU-Abgeordnete wie der Sozialdemokrat Klaus Hänsch und der CDU-Abgeordnete Elmar Brok brachten die Option eines "freiwilligen Austritts", beziehungsweise die Gefahr eines "politischen Kerneuropas mit Mitgliedern erster und zweiter Klasse" ins Spiel. Sollten einzelne Länder weiterhin gegen eine Verfassung sein, dann könnte "ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten nicht mehr vermieden werden".

Der Verfassungsvertrag scheiterte bei den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden, wurde aber von 18 anderen Staaten ratifiziert. Ob nun ein neuer Anlauf gelingen wird, hängt nicht in erster Linie von der Geschicklichkeit der deutschen Präsidentschaft, sondern davon ab, ob Polen und Tschechien lernen können, "dass Solidarität keine Einbahnstraße ist."

Die Festveranstaltungen und die üblichen zweckoptimistischen Erklärungen aus dem Berliner Bundeskanzleramt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das ganze EU-Verfassungsprojekt nach wie vor in der Schwebe ist. In Großbritannien steht der Wechsel vom Tony Blair zu dem europaskeptischen Schatzkanzler Gordon Brown bevor. Im Mai wird es in Frankreich einen neuen Präsidenten geben. Der bekannte polnische Publizist Adam Michnik hat anlässlich des EU-Jubiläums vor dem "Wiederaufleben der Dämonen der europäischen Geschichte" nicht nur in Polen, sondern auch in der Slowakei und in Ungarn, in Litauen und Tschechien gewarnt.

Populismus könne in der Form von nostalgischem Postkommunismus oder von Antikommunismus mit bolschewistischer Fratze auftreten oder die beiden Tendenzen kombinieren, so der einstige Bürgerrechtskämpfer in der New York Times.

In einem Le Monde-Interview mit dem wohl erfolgreichsten Kommissionspräsidenten, nämlich mit Jacques Delors (1985-1995), wurde die Frage gestellt, warum die nationale Frage in der französischen Wahlkampagne unentwegt auftaucht, von Europa jedoch kaum gesprochen wird? Die Atmosphäre sei nicht gut, meinte Delors und fügte hinzu, es wäre übertrieben, die ganze Verantwortung mit dem Nein zum Verfassungsvertrag im Jahr 2005 zu verbinden. Er sieht die Erklärung darin, dass die Erweiterung von 15 auf 27 Mitgliedsstaaten schlecht vorbereitet und schlecht ausgeführt worden sei.

Immer mehr Bürger vergessen die Erfolgsstory der Vereinigung von 27 Staaten mit fast einer halben Milliarde Menschen in Frieden und Freiheit. Sie sehen die EU als schwarzes Loch ungezügelter zentralistischer Regulierung und undurchsichtig gehandhabter Umverteilung von rund hundert Milliarden Euro jährlich. Auch nach dem Fest liegt im Akzeptanzschwund der EU nach wie vor die größte Gefährdung Europas. Wie sagte einmal Delors: "Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt." (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 29.3.2007)