86 Jahr alt und immer noch Missionar: Der US-Jazzer Yusef Lateef über seinen ewigen Antrieb: "Den Sinn für Schönheit in den Herzen der Menschen zu erwecken.

Foto: Newald
Wien – Auf die Frage, was er denn mit Wien verbinde, muss der höfliche alte Herr im wallenden Kaftan erst einmal nachdenken. "Joe Zawinul" lautet das Stichwort, dass das Gespräch mit Yusef Lateef ins Rollen bringt. Diesen habe er Anfang der 1960er-Jahre in New York kennengelernt und für sein Nonett-Album The Centaur And The Phoenix von 1961 engagiert, mit ihm habe er in der Band von "Cannonball" Adderley auch erstmals Europa besucht. Allerdings nicht Wien – und auch nicht Österreich.

In unseren Breiten war Yusef Lateef bis zu seinem Gastspiel 2002 in Graz ein großer Abwesender (an einen von ihm selbst genannten Wien-Auftritt Mitte der 1970er kann sich niemand erinnern), was auch damit zusammenhängen mag, dass er schon früh andere geografische Räume fokussierte: In den 1960er-Jahren bereiste Lateef Ägypten, dreimal zog es ihn auch nach Mekka und Medina, zweimal davon als Pilger. Hieß doch Yusef Lateef erst ab 1948 Yusef Lateef, als der in Detroit auf gewachsene William Evans, gerade in der Bigband Dizzy Gillespies tätig, seinen Taufnamen ablegte und zum Islam konvertierte.

Im Gegensatz zu Musikerkollegen wie Art Blakey, die damit vor allem ihre Distanz zum rassistischen weißen Amerika betonten, sollte dies für Lateef Ausgangspunkt einer lebenslangen Reise sein. Wobei er seine spirituelle Entwicklung auch musikalisch reflektierte, indem er sich – als erster Jazzer – in die Musiken des Orients vertiefte und in sein kraftvolles, geradliniges Hardbop-Konzept, mit einem virilen, erdigen Tenorsaxofon und einer lyrisch erblühenden Flöte als Markenzeichen, rhythmische und melodische Strukturen aus Nah- bis Fernost integrierte, vor allem aber Flöten, Oboeninstrumente wie Algaita und Arghool sowie Oboe und Fagott selbst.

Exotische Instrumente

Knapp fünf Jahrzehnte nach berühmten Alben wie Prayer To The East(1957), The Three Faces of Yusef Lateef(1960) oder Eastern Sounds (1961) nennt Lateef vor allem musikalische Gründe für seine Erkundungen: "Nach den ersten Aufnahmen für Savoy Records (1957; Anm.) wusste ich, wenn ich diese Linie fortsetzen wollte, müsste ich meine Klang farbenpalette erweitern. So begann ich wirklich nach exotischen Instrumenten zu suchen, sie auch selbst zu bauen, sie wurden beinahe zu einem Fetisch für mich!"

Assoziationen in Richtung einer bewusst vorweg genommenen "Weltmusik"-Idee, einer Brückenbauer-Mission zwischen Ost und West, wie sie oft und gerne auf Lateefs Musik projiziert worden sind, waren und sind ihm auch aus einem anderen Grund fremd: "Der Koran sagt: Es ist Gott, der die Leute zum Weinen bringt. Wenn man eine Frau schön singen hört, ist es im Prinzip nicht die Sängerin, die dem Hörer gefällt, sondern der, der die Stimme und die Sängerin schuf. Der Koran sagt: Gott schmückt die Erde. Wir haben darüber keine Kontrolle, wir sind nur das Gefäß."

Ja, dieser Herr denkt und lebt in eigenen Sphären. Was sich auch darin äußert, dass Yusef Lateef längst auch das Wörtchen Jazz hinter sich gelassen hat und stattdessen von seinem Werk als "autophysiopsychic music" als "Musik für das körperliche, mentale und spirituelle Selbst" spricht. Solche schreibt er in großen Formaten: Ein Klavierkonzert liegt vor, und seine Synthesizer-verkitschte Little Symphony fuhr anno 1987 einen Grammy in der Rubrik "New Age" (!) ein. Daneben schreibt der promovierte Erziehungswissenschafter Bücher und Gedichte, ediert seine CDs auf dem Eigenlabel. Nur selten lässt er sich aus der Ruhe seines Hauses in Amherst, Massachusetts, reißen, etwa, wenn er mit den französischen Belmondo-Brüdern konzertiert: Selbiges war Montag im Porgy & Bess der Fall und bedeutete einen unpeinlichen Auftritt eines 86-Jährigen, der trotz seiner altersbedingt beschränkten Atemressourcen noch immer für klischeefreie Soli an Oboe und dem noch immer kraftvoll intonierten Tenorsaxofon gut ist.

Was, Herr Lateef, treibt Sie nach bald 70 Jahren als professioneller Musiker noch immer an? "Ich denke, in der Musik geht’s um dasselbe wie bei Hans-Christian Andersen, wie bei Shakespeare, Voltaire, Rachmaninow. Sie beschäftigen sich alle mit demselben Thema: den Sinn für Schönheit in den Herzen der Menschen zu erwecken."(Andreas Felber / DER STANDARD, Printausgabe, 28.03.2007)