Jeden Tag außer am Sonntag untersucht die indische Ärztin Sunitha Sugumar Menschen in Dörfern, die vom Tsunami 2004 zerstört wurden. Das Trauma haben viele noch nicht bewältigt, Spezialprogramme sollen helfen.

Foto: Standard/Marijana Miljkovic
Die Österreichische Volkshilfe arbeitet vor Ort mit einer indischen NGO an Selbsthilfeprojekten, die auch die Gesellschaft verändern.

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Nagapattinam - Für die 26-jährige Ärztin Sunitha Sugumar ist der heiße, sonnige Tag Mitte März wie jeder andere: Die Menschen stehen Schlange bei ihr und auch heute hat sie alle Hände voll zu tun. Der Bus, ihre mobile Klinik, ist unter einem schattigen Baum im Fischerdorf Seruthur geparkt, Frauen und Männer, ihre Kinder in den Armen wiegend, stellen sich zur Untersuchung an.

Seruthur ist eines der 18 Dörfer im südostindischen Bundesstaat Tamil Nadu, das seit mehr als zwei Jahren alternierend von zwei Ärzten besucht wird und welche der Dorfbevölkerung ermöglichen, sich kostenlos untersuchen zu lassen. "Die Menschen hier leiden noch immer an den Folgen des Tsunamis", sagt die Ärztin. Nicht nur, weil sie verletzt wurden, sondern weil sie auch psychische Probleme haben. "Täglich gebe ich mein Bestes, doch es ist kein leichter Job", sagt sie über die Betreuung der 100 bis 120 Patienten.

Räumlich ist es nicht schwierig, Nähe zu diesen Menschen aufzubauen, denn sie sitzen ihr im schmalen Krankenwagen gegenüber. Doch vor allem Männer müssen sich überwinden, über die traumatischen Erlebnisse, die am 26. Dezember 2004 begannen, zu reden. Damals überflutete der Tsunami den zehn Kilometer langen Küstenstreifen im Nagapattinam District, tötete mehr als 6000 Menschen und raubte 200.000 ihre Existenz: Felder und Häuser.

Zwei Jahre später sind die ersten Häuser in einigen der 16 Dörfer, in denen die Volkshilfe ihre Aufbauprojekte verwirklicht, fertiggestellt und bereit für den Einzug. Doch noch immer leben die meisten Betroffenen in "temporary shelters", den schmalen, engen Übergangsunterkünften, die in Reihen angeordnet sind und mit ihren dünnen Wänden keine Privatsphäre ermöglichen.

Zwar sind viele der 242 geplanten Häuser errichtet, die Distriktverwaltung, die sich um Straße, Wasser und Stromleitungen kümmern muss, hinkt aber zeitlich hinterher. Sie ist auch für die Zuweisung der Häuser zuständig und hat den Baugrund zur Verfügung gestellt. Verantwortlich für das Design der Häuser, drei Räume und eine Außentreppe zur Dachterrasse, waren aber auch die zukünftigen Bewohner. Denn "der größte Fehler, den man machen kann, ist Häuser zu bauen, ohne die Menschen einzubeziehen", sagte Heide Mitsche, Projektbetreuerin der Volkshilfe.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Volkshilfe Österreich arbeitet zusammen mit der indischen Nichtregierungsorganisation Peoples Development Association (PDA). Sie koordinieren nicht nur den Wiederaufbau von Häusern und Schulen, wovon eine die Belegschaft der Voestalpine finanziert, sondern auch Spezialprogramme. Selbsthilfegruppen für Frauen und Kinder zum Beispiel oder Projekte für ältere Menschen.

Vor allem denen geht es schlecht, denn jene, die ihre Angehörigen nicht im Tsunami verloren haben, können nicht einmal die Verbliebenen unterstützen, weil sie selber nichts haben. "Ich will meinem Sohn nicht die Schuld geben", sagt eine gebrechliche Dorfbewohnerin und gibt sich tapfer. Viele ihrer Altersgenossinnen beginnen aber zu weinen. Zu groß ist der Schmerz, von den eigenen Kindern vernachlässigt worden zu sein.

Den Fischern in den Dörfern geht es da etwas besser, weil sie schon kurz nach der Katastrophe Boote von den Hilfsorganisationen bekamen. "Wir haben uns aber sechs Monate nicht getraut, aufs Meer hinauszufahren", erzählt der Fischer Devradh. "Dafür war der Fang gut." Weil das Dorf aber nicht von der Fischerei abhängig sein soll, wird den Eltern nahe gelegt, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Diese sind meist gratis, im ländlichen Gebiet jedoch meist überlaufen.

Das Herausragende der ausländischen Hilfe ist die gesellschaftliche Veränderung, die sie bewirkt hat. Frauen, die an Heim und Herd gebunden waren, beginnen, Nähen zu lernen, machen den Führerschein oder schließen sich in Gruppen zusammen und eröffnen Läden. Zum ersten Mal ist es möglich, dass auch Frauen Kleinkredite aufnehmen.

Neue Aufgaben

Und Menschen aus den untersten Kasten, den Dalits (Unberührbaren) werden ebenfalls in Projekte einbezogen. "Endlich hat man erkannt, dass auch wir etwas beitragen können", sagt die 54-jährige Vidia, die mit 55 Jahren den Führerschein gemacht hat. Sie ist eine der acht Frauen, die sich selbstbewusst ihrer neuen Aufgabe widmen: Sie sammelt mit ihren Kolleginnen den Müll ein, den die Pilger und Bewohner des katholischen Wallfahrtsortes Velainkanni liegen lassen. Und sie will mehr als das: "Wir brauchen ein Auto, damit wir unsere Produkte auf den Märkten im Landesinneren verkaufen können." Die Mittel für den Wiederaufbau und die Projekte kamen von "den vielen Menschen, deren Gesichter wir nicht kennen, ihnen aber dankbar sind", sagt Joe Velo, Leiter der PDA. Doch das Geld reicht noch lange nicht, und zu viele Familien stehen nicht auf der Hausvergabeliste der Distriktverwaltung.

Die junge Ärztin setzt ihre Arbeit fort und versucht, der Situation positive Seiten abzugewinnen: "Das Gute ist, dass die Menschen hier zum ersten Mal zum Arzt gehen können." Sie selbst würde ihren Bus "nie gegen eine klimatisierte Ordination tauschen". (Marijana Miljkovic, DER STANDARD - Printausgabe, 23. März 2007)