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Einsamkeit kann man nicht steigern. Oder doch? Dann müsste die Steigerungsform Karelien heißen. Es ist die Einsamkeit kleiner Waldgehöfte, deren Holzwerk grau verwittert hinter hohen Holzzäunen hervorschaut und sich jetzt im Winter in der Endlosigkeit verliert. Wir sind aber nicht der Einsamkeit wegen nach Karelien gefahren, sondern um den Spuren des "Kalevala" nachzugehen.

"Kalevala"-Land

Karelien - das alte Siedlungsland des ostfinnischen Stammes der Karelier - ist das Land, in dem die Heldengesänge des finnischen Nationalepos "Kalevala" spielen. Hier hat Anfang des 19. Jahrhunderts der schwedisch- finnische Arzt Elias Lönrodt bei jahrelangen Wanderungen diese Gesänge, die so genannten Runen, gesammelt, aufgeschrieben und zu einem Epos zusammengefügt. Gewiss, den größten Teil des "Kalevala"-Landes, das so genannte Weißmeerkarelien, hat die Sowjetunion im Winterkrieg 1939/40 annektiert. Aber ein kleiner Teil blieb bei Finnland, insbesondere das Gebiet um die heutige Grenzstadt Ilomantsi, wo Lönrodt gelebt, wo er das "Kalevala" aufgeschrieben hat.

Wie es in den Stuben der großen karelischen Höfe ausgeschaut hat, die einst zwischen dem Pielinen-See, dem Ladoga-See und dem Weißen Meer lagen, können wir uns gut vorstellen, als wir in Lieksa das Karelische Freilichtmuseum anschauen. An mächtigen Tischen, wie sie heute noch in dieser Stube stehen, sind wohl einst die Bauersleute mit ihren Gästen gesessen und haben den Runensängern gelauscht, so wie es im zwölften Gesang des "Kalevala" geschildert wird: "... voll von Sängern sind die Bänke, längsseits sitzen Saitenspieler, Könner kauern an der Türe." Draußen gehen wir zwischen den alten Holzhäusern dieses karelischen Dorfes umher, vorbei an der Mühle und dem Saunahaus, an den Ställen und dem kleinsten Kaufladen, den es je in Karelien gegeben hat.

Aanika zur Beruhigung

In Ilomantsi lernen wir Aanika kennen. Die junge Finnin mit den blonden Haaren führt durchs Runenhaus, jenes Gebäude, das die Finnen ihrem Nationalepos zu Ehren errichtet haben. In fließendem Deutsch erzählt die junge Frau vom "Kalevala" und seinen Helden, vom alten Väinämöinen, dem Zauberschmied Ilmarinen und der bösen Nordland-Alten. Mit einer Stimme, die so weich und melodisch ist wie die fünfsaitige Kantele - das Instrument, mit dem die Runensänger ihre Vorträge begleiteten - schildert sie, wie sich in den großen Höfen die Sänger trafen. Wie sie nächtelang, nur von der Kantele begleitet, die Runen vortrugen. Dann greift sie zu einer deutschen Ausgabe des "Kalevala", schlägt den 44. Gesang auf.

Geschichte vom alten Väinämöinen

Es ist die Geschichte, in der der alte Väinämöinen, der Held des Epos, sich eine neue Kantele bauen will, ihm dafür aber die Saiten fehlen. So bittet er schließlich ein blondes Mädchen um ein paar Haare als Saiten für seine Kantele. Aus dem Erzählen wird unversehens die Rezitation, der Gesang. Und während Aanikas Finger mit den Saiten einer 35-saitigen Kantele spielen, singt sie: "Väinämöinen, alt und wahrhaft, eilte dorthin ohne Schuhe / leichthin lief er ohne Lappen. Als er bei ihr angelangt war, / bat er sie um lange Haare, sagte selber diese Worte: / Schenk von deinem Haar mir Schöne, Holde, gib von deinem Haupthaar / mir zu Saiten für Kantele, Stimmen für die Freude."

Längst hat sich der Raum gefüllt, sind neue Besucher gekommen. Finnen natürlich, die zwar in diesem Fall nicht verstehen, was Aanika da singt, aber sie wissen, dass es das "Kalevala" sein muss, und klatschen spontan, als die junge Frau endet. Wir sind also nicht besonders erstaunt, als ein junger Finne Aanika höflich, aber bestimmt um eine Locke bittet. Der Zauber ist vorerst vorbei. Aanika verwandelt sich wieder in die kompetente Führerin, die jetzt in ihrer Muttersprache neuen Gästen vom "Kalevala" erzählt und ihnen die vielen verschiedenen "Kalevala"-Ausgaben in 37 Sprachen aus aller Welt zeigt, die hier im Runenhaus ausgestellt sind.

Kulisse war schon da

Abends stehen wir am Koitere-See. Hier wurde vor Jahren ein Film über das "Kalevala" gedreht. Doch die Kulissenhäuser, die es noch geben soll, finden wir nicht. Wozu auch! Wir horchen auf die Laute, die aus dem Wald und vom Seeufer kommen. Sind das nicht die Töne der Kantelen der Runensänger? Oder gar die des alten Väinämöinen? Kämpft er drinnen im Wald wieder mit Joukalainen? Wie auch immer.

Tage später fahren wir auf der "Straße der Runen und Grenzen" auf Savonlinna zu. Die Straße zieht sich zwar auf viele Kilometer in Sichtweite der russischen Grenze hin, doch ihr Name hat mit dieser Grenze nur indirekt zu tun. Er erinnert vielmehr an die alte Grenze, die seit dem 17. Jahrhundert als Religionsgrenze durch das beiderseits von finnischen Kareliern besiedelte Land gezogen wurde. Westlich lebten protestantische, östlich orthodoxe Karelier. Nach dem Winterkrieg 1939/40 wurde dann die Staatsgrenze daraus. Unmittelbar an der Grenze steht die Jugendherberge von Värtsilä. Im Hof sitzen Jugendliche und singen, als wir ankommen. Wir können sie zwar nicht verstehen, aber man kann eigentlich nicht davon ausgehen, dass sie heute noch von der Grenze zum "dämmerdunklen Sariola" singen, dem feindlichen Land im Norden, in das die Kalevalahelden immer wieder zogen. Andererseits klingt ihr Gesang aber so melancholisch, dass selbst das Lied von "YMCA" als Ode an die Einsamkeit Kareliens rüberkomme würde. (Christoph Wendt/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.3.2007)