Die "Explosion der Zeit" (Jáchym Topol) im Jahre 1989 brachte Literatur aus dem Exil, Samizdat und Untergrund an die Oberfläche, deren Publikation vorher aus ideologischen Gründen nicht möglich gewesen war. Vor allem authentische Texte wie Tagebücher oder Erinnerungen waren populär, denn sie brachten nach 40 Jahren Kommunismus die Wahrheit der Zeitzeugen ans Licht. Die Literatur der Neunzigerjahre reflektierte oft den Umbruch der Gesellschaft; das Interesse an der Welt, vor allem am westlichen Ausland, war enorm.
Junge Generation
Jetzt hat sich das neue System etabliert - Zeit für eine junge Generation, die großen tschechischen Tabuthemen aufzugreifen: Milos Urban schreibt über die ökologische Devastierung Nordböhmens; sein Held mutiert vom Wassermann einer biedermeierlichen Dorf-Idylle zum Ökoterroristen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Martin Smaus beschreibt das Schicksal eines slowakischen Roma-Angehörigen, der tun kann, was er will: In der tschechischen Gesellschaft hat er keine Chance.
Die Feministin Alexandra Berková provoziert mit dem Thema weiblicher Homosexualität. Radka Denemarková schildert das Schicksal einer tschechischen Jüdin, die Auschwitz überlebt, aber als Deutsche gleich wieder interniert und enteignet wird; ein halbes Jahrhundert später kämpft sie um die Rückgabe ihres Vermögens. Das triste Leben an der geografischen und gesellschaftlichen tschechischen Peripherie ist Hintergrund von Anna Zonovás psychologisch fein gearbeiteten Erzählungen.
Die tschechische Literatur ist jünger geworden. Aber noch immer gibt es ältere Texte und Autoren zu entdecken, etwa Vladimír Binar mit einem Schlüsselroman aus den Achtzigerjahren, der die Zwänge und Ängste eines tschechischen Intellektuellen in der polynesischen Emigration thematisiert.
Dialog in Briefform
Eine Spurensuche anhand eines Dialogs in Briefform betreibt der seit den 80er-Jahren in Paris lebende Lubomír Martínek - dazwischen streut er reflektierende Passagen über das Schreiben, die Emigration, den Totalitarismus und den französischen Rassismus ein. Ivan Matousek fügt aus tausend kleinen Mosaiksteinen einen monumentalen sprachexperimentellen Bildungsroman, dessen Handlung nur von der Mission des Haupthelden zusammengehalten wird.
Die tschechische Prosa ist sowohl mit den internationalen als auch mit den heimischen Traditionen vertraut. Jirí Kratochvil, der tschechische Exponent der Postmoderne, knüpft an das schachbrettartige Figurenspiel eines Milan Kundera an, Emil Hakl an den mündlichen Erzählstil und die poetische Weltsicht von Bohumil Hrabal. Die junge tschechische Bohemekultur der Achtziger- und Neunzigerjahre schildert eine Collage aus Kurztexten von Karel Kuna. Ein Roman hat übrigens einen expliziten Wien-Bezug: Stanislav Komárek erzählt von einem Turkologen, der dem Ruf des Orients folgend Anfang der 80er-Jahren nach Wien emigriert - so wie der Autor selbst.
Topinkas Comeback
Nach vier Prosa-Abenden präsentiert die Alte Schmiede Lyrik: ein Poem von Miloslav Topinka, der nach seinem Publikationsverbot für 30 Jahre verstummte und nun ein Comeback feiert; die fragilen Gedichte über eine Kindheit zur Zeit von Nationalsozialismus und Krieg von Viola Fischerová, die erst nach der Wende, im Alter von fast 60 Jahren debütierte, und Verse des existenzialistischen Dichters Petr Halmay.
Zuletzt wird die "Tschechische Bibliothek" vorgestellt. Sie bietet das Beste aus der tschechischen Literatur in 33 Bänden und teilweise neuen Übersetzungen - kaum eine Literatur ist im deutschsprachigen Raum so systematisch erfasst. Der Dichter und Literaturkritiker Peter Hamm diskutiert das Projekt mit zwei Übersetzerinnen, Christa Rothmeier und Eva Profousová, und einem der Herausgeber, dem Präsidenten des P.E.N.-Club und ehemaligen tschechischen Botschafter Jirí Grusa. Vorsichtige Erkundung