Leipzig, wie es liest und blättert. Das Wappen der sächsischen 500.000-Einwohner-Stadt einmal etwas anders.

Illustration: Michaela Pass
Frankfurt am Main, 2006: Kurzfristig muss ein Vortragssaal getauscht werden – wegen einer Lesung des Wiener Autors Daniel Kehlmann, der seit Erscheinen seines Romans Die Vermessung der Welt fast jeden Abend in einer anderen Stadt daraus vortrug. Bastian Sick (Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod) hielt 2005/2006 seine öffentlichen Deutschstunden in stets ausverkauften Hallen ab. Die Programme von Literaturhäusern zwischen Innsbruck und Zürich, Mattersburg und Lübeck offerieren Abend für Abend Autorenlesungen zuhauf. Allein in Deutschland versammelten sich im Jahr 2003 40.000 Menschen an 100 Abenden, um den neuen Erzählungen Judith Hermanns zu lauschen, die die Autorin vorlas. Auch Messen wie die kommende Woche beginnende Leipziger Buchmesse oder Festivals wie die derzeit laufende lit.cologne preisen sich mit Superlativen an. 1900 Veranstaltungen, 1500 Mitwirkende und 300 verschiedene Vorlese-Orte binnen fünf Tagen allein in Leipzig! Jedes Jahr ein neuer Besucherrekord beim neuntägigen Vorlesemarathon in Köln! Die literarische Lesung ist ein Phänomen des literarischen Geschäfts der Gegenwart. Lesereisen und Autorenauftritte gehören mittlerweile zum Kernbestand verlegerischer Werbeaktivitäten. Oft werden diese sorgfältig inszeniert und latente Schwellenangst beim Betreten hochkultureller Einrichtungen, wie es Literaturhäuser oder Buchhandlungen per se sind, wird raffiniert umgangen. So gibt es etwa Lyrikrezitationen im Leichenschauhaus, Prosadarbietungen auf Dampfern sind nichts Ungewöhnliches, genauso wenig Vorleseabende in Kaminräumen von Luxushotels, und akustisch schlechtestmöglich errichtete Volkshochschulen und Gymnasien sind für Autoren ganz normaler Alltag.

Die Arbeit am Schreibtisch ist ein einsames Geschäft. So stellt die öffentliche Lesung für Autoren zumeist die einzige persönliche Verbindung zur Leserschaft dar. Mit Abstrichen, wie Burkhard Spinnen zu berichten weiß: "Die literarische Lesung in der Provinz gilt verbreitet als grauenhaft und unerträglich. Oft genug ist sie als eine Art General-Entwürdigung von Literatur und Autor-Existenz beschrieben worden. Wird sie hingegen gefeiert, dann ganz ironisch als Angriff auf den Weltrekord im Erzeugen von Widerwillen und Langeweile (beim Publikum) sowie Melancholie und Todessehnsucht (beim lesenden Autor)." Häufig genug bleibt dabei der auch von Autoren gewünschte Austausch auf der Strecke. "Dieses Zurückgeben der Fragen", wünscht sich etwa Judith Hermann, "würde mich bei den Gefühlen interessieren, die meine Geschichten auslösen. Ich möchte dann, wenn ich gefragt werde, zurückfragen: ‚Warum empfinden Sie die Geschichten als traurig? Was ist Ihre Vorstellung vom Glück? Glauben Sie an die Liebe, oder tun Sie es nicht?’"

Thomas Böhm, selbst Organisator von Lesungen und Advokat dieser Präsentationsform – "Eine Geschichte der Lesung wäre die denkbar lebendigste, komplexeste Form der Literaturgeschichtsschreibung" –, verweist hingegen auf einen merkwürdigen Umstand: "Eine Umfrage unter 25 deutschsprachigen Verlagen ergab, dass kein Verlag seinen Autoren Stimm- oder Vorlesetraining anbietet, obwohl alle Verlage betonten, dass Lesungen für sie ein wichtiges Mittel des Buchmarketings sind." Nicht jede Lesung ist somit ein Ereignis. Doch jede Lesung ist ein Event, geht es doch, lässt man einmal Traditionen wie Schriftlichkeit und Mündlichkeit, das Verhältnis von Gesang, Rezitation und Vertonung, Lesung als religiöses Ritual, Publikumssoziologisches, Geniekult, kongeniale Leser und die sozialen Funktionen des Vorlesens außer Acht, dabei um vier Kategorien, um Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Interaktion. Böhm: "Lesungen und private Lektüre verbindet, dass sich Momente der Selbstvergessenheit, des Aufgehens im Text, des Leseglücks einstellen."

Beim Vorlesen eines Textes durch den Urheber geht es aber um anderes als bei der Rezitation durch einen Sprecher. Hier erfolgt die Trennung der vom Lesepublikum imaginierten, konstruierten Ineinssetzung von authentischem Erzähler und erzählter Authentizität; dort dagegen, beim vorlesenden Schauspieler etwa, die Identität herstellende und Identifikation kreierende Verschmelzung, die möglichst perfekte Rollenaneignung. In diesen "audiovirtuellen" (Oskar Pastior) Fällen ist die Anverwandlung des Publikums konkret benennbar – biografistische Neugier. John von Düffel konstatiert aus Autorenperspektive: "Gesucht wird das Missing Link zwischen Autor und Roman, eine Verbindung zwischen Leben und Schreiben. Und das ist das Geheimnis, hinter das die meisten Lesungsbesucher zu kommen versuchen." Düffel weiter: "Der Autor ist auf einmal nicht mehr das, was er schreibt, er wird gesehen und gehört. Und während er seinem eigenen S-Fehler lauscht, während er die Speichelbläschen auf der Zunge zerplatzen hört und mit kieferorthopädischen Artikulationsschwierigkeiten ringt, wünscht sich so mancher Schriftsteller an seinen Schreibtisch zurück: zurück zu der entleibten Literaturvermittlung unserer medialen Welt, zurück zu einer quasi-telepathischen Verbindung mit seinen Lesern und der Gedankenübertragung durch das lautlos geschriebene Wort." Nicht der Autor ist tot, wie das akademische Schlagwort der Siebzigerjahre lautete, sondern dieser Slogan. Die unterschiedlich gehandhabte akustische Supplementärkunst kann Geschriebenes nobilitieren oder seine Wirkung vernichten, auf alle Fälle die eigene Lektüre verändern. Die Auratisierung ironisierte schon Robert Walser: "Des Dichters Haar war meiner Meinung nach nicht ganz einwandfrei gescheitelt, und die Gedichte, die er zum besten geben zu dürfen meinte, gefielen ihm einst selbst, als er sie schrieb, sehr; doch jetzt, als er sie rezitierte, taten sie dies eigentümlicherweise nicht mehr."

Aura der Physis, Aura der Stimme, Aura des Originals. Auf diese "quasi-telepathische Verbindung" konzentrieren sich zunehmend Hörbuchverlage, die Aufnahmen und O-Ton-Mitschnitte von Thomas Mann und Elias Canetti, Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann präsentieren. Und so fesselt, anfangs wider Willen, dann immer stärker der Mittsiebziger Thomas Mann, trägt er die komplexen Satzperioden der Musterungsepisode aus Felix Krull vor. Und erstaunt hört man frühe Radiolesungen eines sehr bewusst, sehr melodisch, sehr hochdeutsch vortragenden Thomas Bernhard. Und ängstigt sich fast ob der fragilen Scheu Ingeborg Bachmanns und ihres hauchzarten Zurücktretens hinter die eigenen Texte. Und es schwinden einem fast die Sinne angesichts der überschäumenden Vortragskunst des An- und Aus-sich-heraus-Verwandlers, des akustischen Masken-Trägers und Stimmen-Stellers Elias Canetti, dessen Hörwerke, Rezitationen, Gespräche, Vorträge und Interviews nun erstmals gesammelt vorliegen. Hördauer: exorbitante 33 Stunden.

Nicht jeder Autor praktiziert die Hinwendung des Lesenden zum Publikum so wie der Schweizer Hermann Burger oder der Deutsch-Syrer Rafik Schami. Burger erkor sich auf eigenen Lesungen aus der Zuhörerschar eine Person, auf die er sich konzentrierte. Am Ende einer Lesung gab er dann bekannt, wer der Auserwählte war, woraufhin er sich auf Kosten Burgers ein Buch aussuchen durfte. Und Schami verzauberte sein Lesungspublikum mit einer Geschichte, in der eine Frau während einer Lesung von der Geschichte, die sie hörte, so verzaubert wurde, dass sie immer jünger und immer schöner ward. Voraussetzung einer jeden Lesung ist Exhibitionismus, bis zum Finale. "Nach dem letzten Wort", so Sigismund von Radecki, "klappe ich das Manuskript mit gespielter Gleichgültigkeit zu und verbeuge mich angemessen auf den Applaus hin. Er lässt mich kalt, und doch wäre ich todunglücklich, wenn er ausbliebe. Er hat dazusein, ich würde im Notfalle selbst applaudieren." ( Alexander Kluy/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.03.2007)