Die Beobachtungen eines Schriftstellers, der von Budapest nach Wien fährt, seine einstige Geliebte im Museumsquartier trifft, um dann vom Westbahnhof wieder nach Ungarn zurückzufahren, erschöpfen sich im Aufzählen der Lastwagen, Baumärkte, Werbeplakate, die er aus dem Zugabteil sieht. Von Belästigung, Bedrohung, Unrecht keine Rede. Ganz im Gegensatz zu Imre Kertészs Schilderung der gleichen Fahrtroute 1991, auf der er von Polizisten drangsaliert wurde, in Eine Geschichte. Von tiefer reichenden Gefühlen keine Rede trotz des anhaltenden Sinnierens des Intellektuellen. "In mir ist keine Liebe": Das war Kertészs Signalsatz in Eine Geschichte. "In mir ist keine Liebe": Das ist auch für Ingo Schulzes Erzählung Noch eine Geschichte gültig, aber befreit von äußerer Bedrängnis. Die Verzweiflung ist latent, subkutan. Ausgeblendet, aber stets präsent. Sie ist gut wattiert. Ihrer elementaren Schärfe wird ausgewichen in diffuse Irgendwie-Existenzen.
Es sind dreizehn Geschichten aus zehn Jahren, die der Berliner Ingo Schulze nun vorlegt. Aufgeteilt hat er sie in drei Abteilungen. Doch alle kreisen um Paare und deren Distanz, um Literatur, Sehnsucht, emotionale Defizite, um Lebenslügen und Liebeslügen. Es liegt eine merkwürdige Kühle über diesen Geschichten. Eine Kälte der Distanz; eine Kühle der Distanzierung. Kaum einer der Protagonisten bleibt nachhaltig im Gedächtnis. Als Autor hält sich Ingo Schulze seine Figuren vom Leib. Erst recht dort, wo die Hauptfigur ein Schriftsteller ist, der über einem Romanmanuskript mit dem Titel Neue Leben sitzt, den der reale Schulze 2005 veröffentlichte, und der vor zehn Jahren wie der faktische Schulze den Erzählband 33 Augenblicke des Glücks herausbrachte. In all dieser Literarizität, in diesem teils umständlich aufgebauten Spiegelkabinett verheddert sich Schulze in Noch eine Geschichte nachhaltig. Nur da, wo Schulze tatsächlich von einer großen Erschütterung erzählt wie in Glaube Liebe Hoffnung Nummer 23 – ein Advokat mit fundamentaler Lebens- und Liebesungeschicklichkeit wird zum Partner in seiner Anwaltssozietät ernannt, erlebt eine Nacht lang eine Affäre mit einer schönen Frau, in die er sich unsterblich verliebt, mit der er endlich spürt, was Leben ist, und erfährt im Kollegenkreis en passant, dass es sich bei ihr um eine Edelprostituierte handelt –, stellt sich mehr ein als talentierte Artistik. Ansonsten achtet man mehr und mehr darauf, was Schulze als nächste Anspielung und Travestie, als nächsten literarischen Verweis präsentiert. Welche Tricks und Ablenkungen er aus dem Handgelenk schüttelt.
So entwickelt sich in der Erzählung Eine Nacht bei Boris aus einer Runde wildfremder Gäste ein Kreis, in dem nicht vor dem Hintergrund der Pest, sondern des Balkankriegs Geschichten à la Decamerone erzählt werden. Selbstredend ist einer dieser hingeschwafelten Berichte über eine Bootsfahrt entlang der dalmatinischen Küste bis zur ungeschickten Überladung gespickt mit Elementen der Odyssee (Passagiere am Mast, einäugiger Kapitän). Und selbstredend ist diese ungeschickt, fast aufdringlich anmutende Überladung alles andere als ungeschickt. Sondern Absicht. Kühl kalkulierter Effekt. Und Ablenkung. Denn dadurch wird vieles andere, was latent noch mitschwingt und herbeizitiert wird, nicht so auffällig. Da wird die "alte Manier" schlicht zu sehr Manier.