Ingo Schulze, "Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier". € 20,50/288 Seiten. Berlin Verlag, Berlin 2007.

Buchcover: Berlin Verlag
Ertaubt sind die Gefühle. Die Wörter sagen kaum noch etwas. Das Einzige, was noch funktioniert, ist der Sexualtrieb. Kaum hat sich Frank Reichert seiner großen Phantomliebe mehr passiv denn aktiv entledigt, der Schauspielerin Julia, die er als Physikstudent im Herbst 1989 in einer Universitätsstadt in der DDR kennen und heiß lieben gelernt hat, bevor der gesellschaftliche Wandel beide auseinander trieb, und die er, inzwischen Eigentümer einer Copyshopkette, zehn Jahre später ernüchternd wiedertrifft, gesteht er seiner Partnerin Ute, mit der er einen Sohn hat, endlich seine Liebe. Und betrügt sie nach der Heirat sogleich und mit reinem Gewissen mit einer Freundin.

Die Beobachtungen eines Schriftstellers, der von Budapest nach Wien fährt, seine einstige Geliebte im Museumsquartier trifft, um dann vom Westbahnhof wieder nach Ungarn zurückzufahren, erschöpfen sich im Aufzählen der Lastwagen, Baumärkte, Werbeplakate, die er aus dem Zugabteil sieht. Von Belästigung, Bedrohung, Unrecht keine Rede. Ganz im Gegensatz zu Imre Kertészs Schilderung der gleichen Fahrtroute 1991, auf der er von Polizisten drangsaliert wurde, in Eine Geschichte. Von tiefer reichenden Gefühlen keine Rede trotz des anhaltenden Sinnierens des Intellektuellen. "In mir ist keine Liebe": Das war Kertészs Signalsatz in Eine Geschichte. "In mir ist keine Liebe": Das ist auch für Ingo Schulzes Erzählung Noch eine Geschichte gültig, aber befreit von äußerer Bedrängnis. Die Verzweiflung ist latent, subkutan. Ausgeblendet, aber stets präsent. Sie ist gut wattiert. Ihrer elementaren Schärfe wird ausgewichen in diffuse Irgendwie-Existenzen.

Es sind dreizehn Geschichten aus zehn Jahren, die der Berliner Ingo Schulze nun vorlegt. Aufgeteilt hat er sie in drei Abteilungen. Doch alle kreisen um Paare und deren Distanz, um Literatur, Sehnsucht, emotionale Defizite, um Lebenslügen und Liebeslügen. Es liegt eine merkwürdige Kühle über diesen Geschichten. Eine Kälte der Distanz; eine Kühle der Distanzierung. Kaum einer der Protagonisten bleibt nachhaltig im Gedächtnis. Als Autor hält sich Ingo Schulze seine Figuren vom Leib. Erst recht dort, wo die Hauptfigur ein Schriftsteller ist, der über einem Romanmanuskript mit dem Titel Neue Leben sitzt, den der reale Schulze 2005 veröffentlichte, und der vor zehn Jahren wie der faktische Schulze den Erzählband 33 Augenblicke des Glücks herausbrachte. In all dieser Literarizität, in diesem teils umständlich aufgebauten Spiegelkabinett verheddert sich Schulze in Noch eine Geschichte nachhaltig. Nur da, wo Schulze tatsächlich von einer großen Erschütterung erzählt wie in Glaube Liebe Hoffnung Nummer 23 – ein Advokat mit fundamentaler Lebens- und Liebesungeschicklichkeit wird zum Partner in seiner Anwaltssozietät ernannt, erlebt eine Nacht lang eine Affäre mit einer schönen Frau, in die er sich unsterblich verliebt, mit der er endlich spürt, was Leben ist, und erfährt im Kollegenkreis en passant, dass es sich bei ihr um eine Edelprostituierte handelt –, stellt sich mehr ein als talentierte Artistik. Ansonsten achtet man mehr und mehr darauf, was Schulze als nächste Anspielung und Travestie, als nächsten literarischen Verweis präsentiert. Welche Tricks und Ablenkungen er aus dem Handgelenk schüttelt.

So entwickelt sich in der Erzählung Eine Nacht bei Boris aus einer Runde wildfremder Gäste ein Kreis, in dem nicht vor dem Hintergrund der Pest, sondern des Balkankriegs Geschichten à la Decamerone erzählt werden. Selbstredend ist einer dieser hingeschwafelten Berichte über eine Bootsfahrt entlang der dalmatinischen Küste bis zur ungeschickten Überladung gespickt mit Elementen der Odyssee (Passagiere am Mast, einäugiger Kapitän). Und selbstredend ist diese ungeschickt, fast aufdringlich anmutende Überladung alles andere als ungeschickt. Sondern Absicht. Kühl kalkulierter Effekt. Und Ablenkung. Denn dadurch wird vieles andere, was latent noch mitschwingt und herbeizitiert wird, nicht so auffällig. Da wird die "alte Manier" schlicht zu sehr Manier.

Vergleicht man die Erzählungen des 1962 geborenen Dresdners Schulze beispielsweise mit dem jüngst erschienenen Shortstorys-Band Der Muschelsammler des elf Jahre jüngeren Amerikaners Anthony Doerr, so geht der Schulzeschen Prosa jede Wucht ab, jede Schicksalshaftigkeit, jegliche existenzialistische Fallhöhe. Es ist das Prinzip des Irgendwie, das Schulze zu fassen versucht. Und folgerichtig lässt er auch eine Figur räsonieren, dass irgendetwas passiert sei, "aber du kriegst es nicht zu fassen, du kriegst es nicht zwischen die Hände, du kannst es nicht mal sehen, aber es ist da". Wer allerdings in der hier geschilderten mitteleuropäischen Wohlstandswelt eine existenzialistische Fallhöhe reklamiert, dem sei entgegnet: Vielleicht ist es das zeitgenössische Leben, das allseits gepflegte Mittelstandsleben, das eine solche Fallhöhe nicht mehr bietet, sondern nur noch Fissuren aufweist, feinste Risse hinter den Normen, den identischen Träumen, Gesprächen, Lebensläufen und Ikea-Katalogen. (Alexander Kluy/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.03.2007)