Die beiden Mädchen waren mir schon beim Einsteigen aufgefallen. Weniger weil sie diesem klassisch-europäisch multinationalen 16-Jahre-Großraumdisco-Nachwuchshasen-Schick-Klischee so wundervoll entsprachen, sondern wegen der Kopfhörer. Weil das für mich immer eines dieser typischen Mädchendinger gewesen war, die ich nie verstanden hatte.
Kopfhörerteilen
Also so was aus der Kategorie von gemeinsam-aufs-Klo-gehen oder egal-wie-klein-meine-Handtasche-ist-das-was-ich-suche-ist-drin-unauffindbar halt: Das Sich-einen-Kopfhörer-teilen-Spiel hatte ich fast ausschließlich bei Mädchen beobachtet – und eben nie verstanden. Irgendwann hatte ich aufgehört, mir darüber den Kopf zu zerbrechen und akzeptierte es als eines der Differenzierungs-Charakteristika-Klischees zwischen Jungmännchen und Jungweibchen: Knaben waren und sind eben anders komisch.
Die Großraumdisconachwuchsdamen im 37er saßen einander gegenüber, halb (und unbequem) vorgebeugt und von einem weißen Kabel verbunden. Sie nickten einander zu, drückten den jeweils einen Ohrstöpsel fest an den Kopf und brüllten einander (warum eigentlich? Je ein Ohr war ja frei) affirmativ-positive Jugendvokabeln zu, die mir zeigten, dass ich mittlerweile ein echt alter Sack bin: Ich verstand kaum ein Wort. Das machte mich zufrieden.
Irrtumfrisuren
Ein Sitzgruppe weiter saßen drei Knaben. Ähnlich alt wie die Mädchen. Alle drei hatten Frisuren, die entweder ein grob-tragisches Versehen oder aber von Starmania-Kandidaten abgeschaut waren. Und die werden ja nach The-Dome-Vorlagen gestylt, was wiederum ... Egal: Das ist eben ein in sich geschlossener Kreis des Vorstadtdisco-Outfit-Elends. Was können die armen Kids dafür? Egal: Die Knaben schielten jedenfalls zu den Mädchen – und die bemerkten das so auffällig absichtlich nicht, dass es beinahe wehtat.
Ich bekam Angst. Weil ich wusste: Irgendeiner der Knaben würde demnächst die Initiative ergreifen. Aber sicherlich nicht jene, die Mädchen anzusprechen. Weil das ja viel zu einfach wäre. Ich behielt recht: Knabe A holte sein Handy hervor, tippste ein bisserl herum – und hielt es, als es Musik auszuspucken begann, begeistert in die Höhe.
Klirrfaktor
Abgesehen davon, dass der Song grauenhaft war (die Musik passte zum Outfit des Quintetts), hätten die hochgepushten Bässe die höchstens Viertelzollkleine Lautsprechermembran auch bei jeder geringeren Lautstärke überfordert. Aber Knabe A. hatte natürlich voll aufgedreht. Die Straßenbahn erschauerte – nur die Mädchen bekamen nichts davon mit. Aus der Knabenperspektive.
Während Knabe A im Takt seines Handykrachs rhythmisch (und im Sitzen) sein Becken nach vorne stieß und seinen Wohlstandsvorstadtprolo-Irokesen wippen ließ, kramten nun auch die Knaben B und C nach ihren Telefonen. Und ließen sie loswummern und krachen. Und auch wenn das, was da aus den drei Telephonen quoll für mich ziemlich identer Billigbummbumm war, zeigte das rivalisierende Mienen- und Tanzandeutungsspiel der Knaben, dass jeder von ihnen der Meinung war, nur sein Song sei gültig. Die Mädchen hörten immer noch Kopfhörermusik. In der Bim zog man die Köpfe ein. Ich beschloss, zu flüchten.
Netrebko
Während ich an der Tür auf die nächste Station wartete, stellte sich ein Aktentaschenmann Anfang 30 zu den Knaben. Ich dachte: „Arme Sau, netter Versuch – aber das bringt nix solange die Mädchen im Waggon sind“, aber der Mann verblüffte uns alle: Er zog ein ziemlich fettes, ziemlich teures Executive-Handy aus der Tasche, sagte „Na dann wollen wir mal sehen“ – und schaltete es ein: Wie ein Glasschneider schoss Anna Netrebko (oder wer immer die Sopranistin war) aus dem Telefon. Scheppernd zwar, aber doch klarer und lauter als das Bummbumm der Knaben. Die waren fassungslos – und steckten ihre Handys weg. Auch die Mädchen blickten fasziniert auf den Aktentaschenmann.