"Meine Kinder waren schon als Einjährige in einer Ganztagskrippe, später dann im Hort, und ich hatte gar nicht so schlechte Erfahrung damit", sagt Buchautorin Iris Radisch.
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Iris Radisch ist seit 1992 für das Ressort Literatur in der Wochenzeitung "Die Zeit" verantwortlich. Ihr Buch "Die Schule der Frauen. Wie wir die Familie neu erfinden" erschien im Februar bei DVA. Im S TANDARD - Interview mit Barbara Tóth * wünscht sie sich, dass ihre drei Töchter mit neuen Rollenbildern aufwachsen werden.


Standard: Warum braucht es in Deutschland ausgerechnet eine konservative Familienministerin, um eine Debatte über Betreuung von Kleinkindern auszulösen?
Iris Radisch: Was von Ursula von der Leyen in Gang gesetzt wurde, kommt nicht aus dem Nichts, sondern wurde von ihrer sozialdemokratischen Vorgängerin vorbereitet. Diese konnte das nur nicht zu Ende führen, weil die Wahl anders entschieden wurde. Aber die Frage nach Kindern, Familie und weiblichen Lebensläufen in Verbindung mit Kindern ist so in die Mitte der Gesellschaft gerückt, dass es jetzt keine parteipolitische Frage mehr ist, die man von rechts oder von links stellen oder beantworten könnte.

Standard: Dennoch waren es vor allem Männer, die in Deutschland die so genannte Geschlechterdebatte ausgelöst haben. Warum?
Radisch: Das war eine Debatte, die zum Ziel hatte, noch einmal eine familienpolitische Restauration anzuregen. Sie wurde vor allem von Männern betrieben – von Publizisten, von Hochschulprofessoren, später kam dann Eva Hermann dazu. Ich deute diese Debatte als Zeichen einer großen gesellschaftlichen Verunsicherung, die wir alle spüren und in der konservativ denkende Geister einfach auf alte Rezepte zurückgreifen wollen.

Standard: Sie geben in Ihrem neuen Buch keine Rezept aus, warum nicht?
Radisch: Jeder, der hier eindeutige Rezepte verteilt, macht es sich zu einfach, der ist potenziell ein Scharlatan. Ich sehe zwei Schwerpunkte. Der eine liegt im mentalen Bereich, wo wir einfach nicht loskommen von alten Bildern, die zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert kommen – was eine Mutter ist, was eine Frau ist, was das Verhältnis von Mann und Frau angeht, was das Kräfteverhältnis in der Liebe angeht, was den Altersabstand zwischen Paaren angeht. Es wäre wichtig, da endlich auf Augenhöhe anzukommen. Daran schließt sich auch eine Veränderung der Mutter- und Vaterrolle an. Der zweite Bereich, in dem sich etwas tun muss, ist die Arbeitswelt. Die funktioniert immer noch nach dem Muster männlicher Arbeitsbiografien, wie wir sie in den 1960er-, 1970er-Jahren hatten, und das ist zu starr für junge Eltern.

Standard: Sie haben drei Töchter. Wie oft haben Sie sich den Vorwurf "Rabenmutter" gefallen lassen müssen?
Radisch: Ich habe das nicht erfahren. Im großstädtischen Milieu, in dem wir verkehrten, war das schon selbstverständlich. Fast schon so selbstverständlich, dass ich mich ein bisschen gewundert habe, dass niemand die Probleme sehen wollte. Ich habe Nachfragen und Anteilnahme vermisst. Die Karrieremutter wird zu voreilig bejubelt, weil man nicht sieht, dass die Bedingungen, unter denen sie das alles tut, kritisierbare sind.

Standard: Hatten Sie ein schlechtes Gewissen?
Radisch: So vordergründig hatte ich keines. Und das kann ich auch den Krippen-Gegnern sagen. Meine Kinder waren schon als Einjährige in einer Ganztageskrippe, später dann im Hort, und ich hatte gar nicht so schlechte Erfahrung damit. Dort haben sie fast mehr gemacht, als ich je hätte leisten können an Bastelarbeit und so weiter. Aber was ich mir unter einer gelungenen Kindheit vorstelle, mit allen Freiräumen für Fantasie, für Experimente, für Müßiggang, war nicht möglich. Das finde ich sehr schade.

Standard: Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist die Kinderkrippensituation besser als im Westen Deutschlands. Hatte der Sozialismus in diesem Punkt vielleicht doch Recht?
Radisch: Wenn die Kinderkrippen gut gewesen wären, ja. Ihre pure Präsenz ist begrüßenswert. Am Zustand der DDR-Pädagogik habe ich aber meine Zweifel. Ganz wichtig ist, dass alle Betreuungseinrichtung das bestmögliche pädagogische Niveau bieten, sonst kann es in der Tat fatal werden.

Standard: Den Begriff "Rabenmutter" gibt es nur im Deutschen. In Frankreich, wo arbeitende Mütter mit Kleinkindern die Regel sind, kennt ihn niemand. Kann man von den Franzosen lernen?
Radisch: Ja und nein. Natürlich ist uns Frankreich überlegen, weil es Müttern die Möglichkeit gibt, früher zu arbeiten. Aber natürlich geht das auf Kosten eines "erwünschten" Familienlebens. Das ist die berühmte Ein-Stunden-Familie. Das halte ich für einen zu großen Tribut an die Arbeitswelt. Man braucht ein paar Nachmittage mit den Kindern. Wann soll sonst Familienleben stattfinden? Nur am Wochenende und in den Ferien?

Standard: Was kann die Politik tun?
Radisch: Alle Wege, die Flexibilität ermöglichen, ein Einstellen auf verschiedene Lebensphasen. Schlimm ist, wenn Frauen auf Teilzeitstellen gehen und ein Leben lang darauf sitzen bleiben.

Standard: Glauben Sie, werden es Ihre Töchter einmal leichter haben?
Radisch: Ich bin zuversichtlich, wenn ich sehe, wie wenig sie in die alten Rollenmuster hineinwachsen, in die ich noch hineingewachsen bin. Sie leben in einem Land, in dem es eine Bundeskanzlerin gibt, sie kennen eine berufstätige Mutter, die zu Hause und am Arbeitsplatz ist, sie behaupten sich selbstverständlich neben den Jungs. Außerdem wird uns die demografische Not zwingen, sich von Rollenbildern zu verabschieden.

Standard: Wobei: Zuversichtlich hätten die Töchter der 68er auch sein können, wenn sie ihre Mütter angeschaut haben.
Radisch: Ja, aber das war damals ein kleines Segment. Die 68er waren eine gebildete Kulturelite, jetzt geht es durch viele Gesellschaftsschichten. Und das ist genau das, was Hoffnung machen kann.

*Barbara Tóth ist seit 2004 Politik-Redakteurin des Standard. Von ihr erschien zuletzt "Wahl 2006. Kanzler, Kampagnen, Kapriolen" (LIT-Verlag).

(D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 10./11.3. 2007)