Zumindest was die Erinnerung angeht: Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass wir im Unterbewusstsein eine Unmenge an Gerüchen erkennen und zuordnen können. Ein Vielfaches von „Veilchen“, „Dung“ oder „süß“. Außerdem, sagte dieser Text, Gerüche wären untrennbar mit Gefühlen und Empfindungen verbunden. Reiz und Reaktion, Geruch und Gefühl - also etwa Wohlbehagen und Geborgensein – wären oft schon dem Fötus als miteinander verknüpft vermittelt worden.
Manipulation
Und wenn jeder halbwegs schlaue Supermarktfilialleiter sich deswegen einen Brotduftofen nebens Packerlbrotregal stellt und Militärs und andere Kräfte mit Du-scheisst-dir-vor-Angst-in-die-Hose-Gerüchen experimentieren, scheint es mir plausibel, dass es der Geruch von Schule war, der beim in der letzte Stadtgeschichte beschriebenen Schulbesuch einen Fast-Flashback auslöste. Nicht nur, aber eben auch bei mir.
Ich habe mich da nämlich auf meinen alten Platz gesetzt. In meiner ehemaligen Klasse. Also in genau jenem Raum, in dem ich die ersten drei Mittelschuljahre verbracht habe. Auf dem Platz, an den ich – so wie die meisten meiner Klassenkollegen – trotz allen Umsetzversuchen meiner Lehrer immer wieder zurück gekehrt bin: letzte Reihe, zweiter Tisch vom Fenster, linker Platz. Die gelochte Pressspanplatte mit den Haken für die Jacken im Rücken – und ungeachtet der ewigen Lehrerankündigung, dass Sesselschaukeln unweigerlich mit dem Tod durch Schädelspaltung am Schulboden ende, mit dem Hinterkopf an der Wand und den Füßen am Tisch das Gleichgewicht haltend.
Möbel
Die Sessel waren wie früher. Die Tisch auch. Beinahe jedenfalls: Wir hatten keine Kugelschreiberablagen. Dafür konnten wir bei einigen Tischen die Tischneigung mit einem archaischen Zughebel von flach auf pultschräg stellen. Das ging nur ruckartig, machte Lärm, taugte auch als Katapult – und war daher verboten. Aber jenen Zwischenraum, der es den Lehrern ermöglichte auf unsere Oberschenkel zu blicken – und der beim Auftauchen der ersten Miniröcke bei jedem Schülerjahrgang zu Schreiduellen und roten Köpfen (bei Lehrern wie Mitschülerinnen) führte, gibt es noch.
So wie alles andere: Die Zimmerwaschbecken. Die muffig riechenden Schwämme. Die Overheadprojektoren. HBP und Kruzifix. Turnschuhabdrücke an den Wänden bis in Schulterhöhe. Massive, altertümliche Heizkörper und Heizungsrohre mit einem Camouflagemuster aus abblätternder Farbe, Kugelschreiberstrichen und Kaugummiresten. Mächtige Doppleflügeltüren, die so oft zugeknallt worden waren, dass der Lack nie länger als ein halbes Jahr halten konnte. Zettelwerk, vertrocknete Orangeschalen und alte Taschentücher in den Fächern. Und vor allem: irgendwelche Papierfetzen, die – aus welchen Gründen auch immer – an die Zimmerdecke geworfen worden waren und dort dann über Jahre picken blieben. Schule halt.
Retroemotion
Ich war allein im Raum. Und eigentlich hatte ich nur Ruhe vom Trubel des Veteranentreffens in den Gängen gesucht. Aber nach drei Minuten begann der Geruch zu wirken: Der Geruch von Kreide, Angst und Langeweile. Von Eifer, Kinderschweiß und Straßenfeuchte im alten Parkett. Von hinter der Tafel entsorgten Schulmilchpackerln, überheizten Räumen und immer zu selten geöffneten Fenstern holte mich ein. Oder zurück. Und plötzlich waren die letzten beiden Jahrzehnte verschwunden: Der Schulgeruch hatte das Schulbubengefühl wiederbelebt. Ausgegraben. Zurückgebracht. Und zwar ohne jeden mildernden, relativierenden Abstrich: Diese Mischung aus Neugierde und Ennuy, Frechheit und Schuldgefühl, Ehrgeiz und Scheissdrauf. Ich hatte beinahe das Gefühl, Stimmen, Schritte und Geräusche von früher zu hören: „Tschiiiief – er kommt.“ Oder so ähnlich.