Hoch emotionale Szenen, Bilder oder Worte aktivieren bestimmte Gehirnregionen bei Frauen wesentlich stärker als bei Männern. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass Depressionen bei Frauen häufiger sind, wie Forscher von der Medizinischen Universität Innsbruck vermuten.

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Anfang der 1990er-Jahre verliebt sich die französische Schriftstellerin Annie Ernaux in einen russischen Diplomaten. Weil er verheiratet ist, bleiben die Treffen selten, was die Beziehung für Ernaux bald zum Leidensweg werden lässt: Ihr Leben besteht aus Warten und Sehnsucht; ist ihr Liebhaber bei ihr, geht sie in erotischer Erfüllung auf; verlässt er sie hingegen wieder, findet sie keinen Schlaf und starrt verzweifelt das Telefon an.

Systematisch geht die Arbeitsfähigkeit verloren. Und je näher der Tag rückt, an dem ihr Freund wieder nach Moskau zurückmuss, desto verzweifelter wird sie. Die "schwärzesten Tage meines Lebens" folgen, wie sie schreibt, die Ernaux nur mehr weinen, hoffen, begehren und wieder weinen lassen.

Zunehmend kippt die Obsession in Richtung suizidale Depression, gegen die die Autorin mit der Niederschrift der Beziehung ankämpft, wobei sie letztlich aber dennoch gute zehn Jahre braucht, um die erfahrene Leidenschaft mit all ihren depressiven Seiten tatsächlich verarbeitet zu haben.

Was in vielerlei Hinsicht typisch ist. Es ist sie, die Schriftstellerin, die Frau, die in Obsession und Begehren eintaucht und darin untergeht. Und es ist sie, die Frau, die sich in weiterer Folge in einer Depression wiederfindet, in der ihr die Welt buchstäblich verloren gegangen ist, wie es die Psychoanalytikerin Benigna Gerisch formuliert. Weiterhin sind es nämlich vorrangig Frauen, die - nicht nur durch komplexe Liebesbeziehungen wie die obige - depressiv in einem klinischen Sinne werden: 20 bis 25 Prozent von ihnen erkranken statistisch gesehen im Laufe ihres Lebens an einer Depression; unter den Männern sind es lediglich zehn bis zwölf Prozent.

Wobei die Ursache für diese ungleiche Verteilung weiterhin nicht genau bekannt ist. Wohl hat es etwas mit Hormonen zu tun und wahrscheinlich auch mit den nach wie vor existierenden Diskriminierungen von Frauen in unserer Gesellschaft. Wirklich schlüssig und umfassend erklären kann man die doppelt so hohen Depressionsraten unter Frauen auf diese Weise aber nicht.

Suche im Kopf

Weshalb nach weiteren Erklärungsansätzen gesucht wird - neuerdings auch im Feld der Hirnforschung. Möglicherweise ist die weibliche Depressionsneigung ja auf ein anders strukturiertes Gehirn zurückzuführen, lautet eine der Hypothesen, der man auch an der Innsbrucker Medizinischen Universität nachgegangen ist. Konkret an der Klinischen Abteilung für Biologische Psychiatrie, die der Universitätsklinik für Psychiatrie angehört, in Kooperation mit der Universitätsklinik für Radiologie II.

Den Rahmen dafür bildete das mit FWF-Mitteln geförderte Projekt "Funktionelle MRT-Untersuchung zur Lokalisation geschlechtsspezifischer Unterschiede in der cerebralen Verarbeitung emotionaler Stimuli", das von dem Mediziner Alex Hofer betreut wurde. Damit wird ein Thema in den Mittelpunkt der Forschungsarbeit gerückt, das auf den ersten Blick rein gar nichts mit Depressionen zu tun hat: und zwar die Verarbeitung emotionaler Reize.

Tatsächlich scheinen, wie psychologische Forschungen schon seit längerer Zeit nahe legen, Frauen und Männer auf hoch emotionale Szenen, Bilder oder Worte unterschiedlich zu reagieren. Was wiederum die Frage aufwirft, ob diese divergierende Wahrnehmungsfähigkeit von Emotionen einfach nur irgendwie passiert oder ob sie sehr wohl mit ganz bestimmten unterschiedlichen Gehirnstrukturen gekoppelt ist.

Das zu überprüfen ist mit modernen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung prinzipiell möglich; etwa mit der "fMRT", also mit der "funktionellen Magnetresonanztomografie", die ganz ohne Kontrastmittel oder Strahlung auskommt und sich einfach die "Durchblutungslogik" des Gehirns zunutze macht. Dort, wo das Gehirn gerade aktiv und somit "aktiviert" ist, wird mehr Sauerstoff und damit Blut benötigt als in solchen Arealen, die gerade "passiv" sind.

Bilder vom Gehirn

Kann nun, wie es bei fMRT der Fall ist, die Blut- und Sauerstoff-Häufung abgebildet werden, so ist es möglich, "funktionelle Bilder" vom Gehirn zu machen. Es lässt sich also zeigen, welcher Funktionsbereich gerade aktiv ist, wenn z. B. eine bestimmte Wahrnehmungstätigkeit oder dergleichen ausgeführt wird. Auf diese Weise kann man buchstäblich "anschauen", was passiert, wenn eine Person etwa mit positiven Bildern und folglich mit positiven Emotionen konfrontiert ist oder wenn umgekehrt negative Emotionen durch entsprechende Wörter oder Abbildungen "induziert" werden.

Genau das ist aber auch für das Phänomen Depression interessant, weil Depressionen als affektiv-emotionale Störungen sich in den Funktionsbereichen des Gehirns abspielen sollten, die auch bei der bild- und wortbasierten Induktion positiver wie negativer Emotionen aktiviert werden. Wird folglich bei der fMRT-Überprüfung der Wahrnehmungsfähigkeit von Emotionen ein Unterschied zwischen Männern und Frauen festgestellt - beispielsweise dahin gehend, dass Frauen angesichts von Emotionen bestimmte Gehirnareale stärker aktivieren als Männer - , so ist das auch eine mögliche Erklärung dafür, weshalb Frauen ausgeprägter zu Depressionen neigen als Männer; eben weil ihre potenziellen "Depressions-Areale" grundsätzlich stärker auf bestimmte Reizungen ansprechen. Und so ist es laut Alex Hofer auch.

Stärkere Aktivierung

Wie in der schon genannten Studie gezeigt werden konnte, existieren deutliche "Aktivierungsunterschiede" zwischen Männern und Frauen, wenn diese mit positiven Bildern (Kinder, Liebende, junge Hunde), ihrem Gegenteil (Kriegsszenen, Tötungen und dergleichen) oder auch mit positiven und negativen Worten konfrontiert sind: Generell wird das Gehirn von Frauen stärker aktiviert. Unter anderem weisen die Schläfenlappen, der Schalenkern, das Kleinhirn und der Hippocampus - je nachdem, ob es sich um Wörter oder Bilder handelt - eine regere Aktivität auf.

Nur einmal fällt die Aktivierung bei Männern stärker aus, nämlich dann, wenn negativ konnotierte Wörter ins Spiel kommen: In diesem Fall springt sozusagen der rechte Scheitellappen an - bezeichnenderweise jener Gehirnbereich, der auch dann reagiert, wenn man mit aggressiven Handbewegungen konfrontiert ist.

Frauen reagieren also weitaus empfindlicher auf Emotionen - nicht nur subjektiv auf der Ebene des Erlebens, sondern auch im Bereich der biologischen Trägerstrukturen. Noch dazu handelt es sich bei Letzteren um Areale oder Funktionsbereiche, die nicht nur vermutlich, sondern auch nachweislich bei Depressionen aktiv sind, wie andere Studien schon gezeigt haben.

Wenn Frauen also doppelt so oft wie Männer an Depressionen leiden, kann das mit dieser "Aktivierungsdifferenz" zusammenhängen, die sich über die Emotionswahrnehmung feststellen lässt. Diese Erkenntnis könnte neue Wege der Therapie eröffnen, die dann auch nicht bloß für Depressionskranke von Interesse wären: Die Gehirnfunktionsbereiche, die bei Frauen eine stärkere Aktivierung erfahren, sind nämlich offensichtlich auch mit Erkrankungen wie der Schizophrenie und der Angststörung verbunden, weshalb auch deren Behandlung von den Innsbrucker Erkenntnissen profitieren kann.

In Innsbruck selbst ist man sich dessen nur zu bewusst und hat deshalb schon ein Nachfolgeprojekt aufgesetzt. In ihm soll nun im Detail herausgearbeitet werden, wie etwa an Schizophrenie erkrankte Patienten auf Emotionen reagieren. Auf dass man besagten neuen Wegen der Therapie ein weiteres Stückchen näher kommt. (Christian Eigner/DER STANDARD, Printausgabe, 7. März 2007)