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Proteste gegen das neue Gesetz, das sämtliche Erinnerungssymbole, die die Sowjetzeit "rühmen", entfernen soll.

Foto: AP/Timur Nisametdinov

Zur Person: Kai-Olaf Lang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Andrus Ansip hat geschafft, was bisher keinem seiner Vorgänger gelang. Estlands Ministerpräsident hat mit seiner Reformpartei bei Wahlen obsiegt und damit beste Aussichten, erstmals in der neuesten Geschichte seines Landes den Posten des Regierungschefs nach einem Urnengang zu behalten. Ansips Liberale legten zehn Prozentpunkte zu und wurden mit einem Stimmenanteil von knapp 28 Prozent zur stärksten Partei im 101-köpfigen „Reichstag“ von Tallinn. Der größte Rivale Ansips, der umstrittene Edgar Savisaar, stagnierte mit seiner Zentrumspartei bei knapp einem Viertel der Wählerstimmen.

Verfehlte Kampagne

Ansip kann sich nun Savisaars entledigen, mit dem er während der abgelaufenen Legislaturperiode wenig begeistert eine Koalitionsregierung gebildet hatte. In dieser gaben Ansips Liberale den Ton an, während Savisaar und die bäuerliche Volksunion – mit wenig Erfolg – ein Abrücken vom strikt marktwirtschaftlichen Kurs durchzusetzen versuchten. Im Wahlkampf profilierte Savisaar sich denn auch als soziales Korrektiv zur Reformpartei. Mit dem Slogan „Reiches Land, besser Bezahlung!“ versprach die Zentrumspartei steigende Gehälter und höhere Pensionen, aber auch ausgebaute Sozialleistungen. Hierbei verwies man explizit auf die günstigen makroökonomischen Rahmenbedingungen. In Zeiten zweistelliger Wachstumsraten (gut 11 Prozent im Jahr 2006!) und wiederholter Haushaltsüberschüsse, so Savisaars Argument, müsse der Aufschwung endlich breitenwirksam werden. Dazu gehöre auch die Einführung einer progressiven Einkommensbesteuerung.

Auf dem Weg zum fünftreichsten Land der EU

Doch Savisaars Kampagne verfing nicht richtig. Die kühl kalkulierenden Esten folgten eher Ansips neuer Wegmarke. Er avisiert das kühne Ziel, Estland zu einem der fünf reichsten Länder Europas zu machen. Hierfür soll die innovationsorientierte und marktliberale Linie der letzten Jahre beibehalten werden. Die Reformpartei kündigte daher weitere Steuererleichterungen an. Der lineare Einkommensteuertarif etwa soll von 22% auf 18% gesenkt werden und später noch weiter fallen.

Streit um den "Bronzesoldaten"

Aber es dürften nicht nur Wirtschafts- und Sozialthemen gewesen sein, die über den Wahlausgang entschieden. Das zweite zentrale Wahlkampfthema war Russland, genauer der Streit um die Entfernung eines sowjetischen Denkmals in Tallinn, des sog. Bronzesoldaten. Mit einem Gesetz, das die Liquidierung sämtlicher Erinnerungszeichen vorsieht, die Fremdherrschaft und Besatzungsmacht rühmen, hatte die Regierung Ansip harsche Reaktionen seitens der russischen Minderheit im Land und aus Moskau ausgelöst. Während derlei Monumente in estnischen Augen den Beginn von Unterdrückung und Unselbständigkeit symbolisieren, stehen sie aus russischer Sicht für das Gedenken an die Sieger des „großen vaterländischen Krieges“. Auch wenn Staatspräsident Ilves das Inkrafttreten des Gesetzes blockierte, schob die Auseinandersetzung den russischen Faktor wieder ins Bewusstsein der estnischen Wähler. Und da erwiesen sich Savisaars Kontakte zu Russland eher als Handicap: etwa sein Werben für die Präsenz russischen Kapitals in der estnischen Wirtschaft oder das Kooperationsabkommen seiner Partei mit der Kreml-nahen Gruppierung „Vereinigtes Russland“.

Welche Auswirkungen hat der Wahlausgang für Estlands Politik in der Europäischen Union? Was die innenpolitischen Voraussetzungen angeht, so sind diese durchaus günstig. Das Parteiensystem hat sich einigermaßen stabilisiert. Hatte vor vier Jahren in Gestalt der Partei Res Publica ein politischer Newcomer auf Anhieb ein Viertel der Stimmen kassiert, konnten diesmal nur die Grünen (mit 7 Prozent weniger stark als vermutet) die Neueinzug ins Parlament schaffen. Abermals erhielten die ethnisch russischen Parteien eine Abfuhr.

Platz für "linke Gruppierung"

Der Teil der etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung umfassenden russischen Minderheit, der die Staatsbürgerschaft hat und somit wählen darf, sieht also sein politisches zu Hause in einer der großen Parteien des Landes. Premier Ansip hat angedeutet, dass er eher nicht mit der Zentrumspartei zusammenarbeiten will, in der der künftigen Koalition aber Platz für eine "linke" Gruppierung sein sollte. Dies könnten die – aus westeuropäischer Sicht eher sozialliberal orientierten – Sozialdemokraten sein, also die Partei der der smarte Staatspräsident angehört. In Betracht käme aber auch die Volksunion. Beide werden aber keinen besonders großen Einfluss ausüben.

Eher schon die konservativ-liberale Vaterlands-Res Publica-Allianz, deren Präsenz in einer Koalition einen marktorientierten Reformansatz und eine prowestliche und deutlich an den USA ausgerichtete Regierungspolitik zementieren wird. Letzteres allein schon deswegen, weil man eine Anlehnung an die USA und vitale transatlantische Beziehungen als effektive Rückversicherung für Allfälligkeiten im chronisch schwierigen Verhältnis zu Russland ansieht. Jenseits einer integrativen Minderheitenpolitik, pragmatischen Wirtschaftsbeziehungen und dem Hoffen auf eine Lösung für den immer noch nicht ratifizierten Grenzvertrag gibt es ohnehin wenig Spielraum.

Um estnisch-russische Ungleichgewichte zu reduzieren, wird auch Tallinns neue Regierung vor allem im sensiblen Bereich Energieversorgung nach zusätzlichen Optionen trachten. Hat man mit der Inbetriebnahme einer neuen Hochspannungsleitung nach Finnland vor wenigen Wochen einen wichtigen Schritt gemacht, um sich an das westliche Stromnetz einzuklinken, soll die Beteiligung am Bau eines neuen Kernkraftwerks in Litauen mittelfristig Unabhängigkeit in Sachen Elektrizität sichern.

Keine rasche Euro-Einführung

Die anderthalb Jahrzehnte seit Beginn der 90er Jahre markierten den Weg Estlands von der Sowjetrepublik zu einem Mitglied in NATO und Europäischer Union. Die nächsten 15 Jahre sollen dem Willen des Wahlsiegers zufolge dazu führen, dass das Land gleichsam in die europäische Champions League aufsteigt – ein Ziel, für das man im Zweifel auch auf eine rasche Euro-Einführung verzichtet.

Doch so essentiell Wachstum, Modernisierung und Informationstechnologie sind, E-Government, Skype und Internetwahlen allein reichen nicht aus für eine dauerhafte zivilisatorische Wende. Denn auch das Musterländ im Nordosten der EU hat Schwachstellen. Damit sind nicht nur die Gefahr einer ins Haus stehenden konjunkturellen Überhitzung gemeint. Es geht gerade auch um Strukturfragen.

Schwachstellen

Wie sind die gesellschaftlichen und sozialräumlichen Unterschiede zu managen? Wie kann die russische Minderheit noch besser integriert werden? Und wie soll das kleine Land der beunruhigenden demographischen Entwicklung begegnen: Die Bevölkerungszahl ging seit 1991 um mehr als 200.000 zurück und liegt noch bei 1,34 Millionen. Nur wenn diese Herausforderungen angegangen werden, wird Estlands Mitgliedschaft in der EU eine Erfolgsgeschichte mit Modellcharakter. (derStandard.at/5.3.2007)