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Sir Simon Rattle bringt seine Ideen zu Richard Wagners "Rheingold" nach Salzburg.

Foto: AP /Stuart Ramson
Er sagt es nicht explizit, aber irgendwie scheint für Sir Simon Rattle alles eine Frage der Balance zu sein. Balance - das Thema beschäftigt ihn zunächst in seiner Rolle als Programmmacher der Salzburger Osterfestspiele, wo es für ihn darum geht, "etwas zu finden, das dieses spezielle Publikum hören will. Gleichzeitig wollen wir aber auch etwas anbieten, das als Überraschung verstanden wird und uns die Möglichkeit gibt, das Publikum zu etwas hinzuführen, das es selbst vielleicht nicht unbedingt gesucht hätte."

Nun, der Ring des Nibelungen, der heuer in Salzburg mit Rheingold startet, ist kein Unterfangen, zu dem man das Publikum überreden muss. Da wird wohl kein Sitz leer bleiben im Großen Festspielhaus, da wird sich jenes Erlebnis, das man mit Peter Grimes hatte, nicht wiederholen, als Gäste wegblieben oder überhastet doch kamen, nachdem sich die Qualität der Produktion herumgesprochen hatte. Simon Rattle erinnert sich schmunzelnd: Da war eine Gruppe von Festivalförderern aus Italien, die schließlich sogar einen Flieger angemietet hatte, um doch noch eine Vorstellung zu erleben ...

Künstlerisch ist der Ring natürlich immer eine Herausforderung, findet Rattle. Deswegen betont er, dass die Zusammenarbeit mit Regisseur Stéphane Braunschweig so friktionsfrei funktioniert habe in Aix-en-Provence, dem Kooperationspartner der Osterfestspiele: "Wir waren alle begeistert, wie klar er das Stück sah, es gibt ja so viele Wege zum Ring. Seine Arbeit mit Worten, etwas, das auch mir wichtig ist, war sehr präzise. Das war alles sehr inspirierend, und Stéphane war sehr sanft in seinem Stil, hat eigentlich die Stimme nicht sehr gehoben." Da herrschte also Balance zwischen Regisseur und Dirigent.

Rattle wäre nicht Rattle, würde er nicht auch bezüglich des Repertoires seines Orchesters eine Balance zwischen Tradition und Moderne suchen. Seine Arbeit ist ja voll von Beweisen, dass er das 20. Jahrhundert nicht umgehen will. Sein Berliner Vorgänger Claudio Abbado hatte viel Brahms und Mahler gemacht, also beschloss man nach Rattles Amtsantritt, in diesem Bereich für eine Weile etwas leiser zu treten. "Das wird jetzt wieder mehr", sagt Rattle. Und wer mag, kann sich anhand der Veröffentlichung des Brahms-Requiems (EMI) informieren, sich in die romantische Seite der Berliner vertiefen.

Ein größeres Konzertprojekt der Zukunft? Es wird auch Tradition und klassische Moderne zusammenbringen. Die integrale Aufführung aller Beethoven-Symphonien erscheint in der Koppelung mit der Zweiten Wiener Schule - repräsentiert durch Werke von Anton Webern. Rattle ist grundsätzlich die Weite des Repertoires wichtig, ebenso das Herstellen von historischen Bezügen und natürlich die Flexibilität seines Orchesters, wobei er sich immer der Gefahr bewusst ist, dass Flexibilität auch einen Verlust der Identität bewirken kann. Nicht muss. Aber kann. "Wenn man viel von allem macht, kommt man in Gefahr, etwas Spezifisches zu verlieren. Wenn man sich aber sehr auf eine Sache konzentriert, nimmt man sich vielleicht die Möglichkeit, Dinge zu erforschen."

Wieder die Frage der Balance. Rattle ist sich bewusst, dass es Spezialensembles für alles gibt, dennoch: Für ihn bedeutet es einen Verlust, nicht musizierend zu erleben, was Musik alles sein kann. Für ihn gibt es letztlich keine Trennung zwischen zentralem Repertoire und dem anderen. "Alles hängt zusammen, wir müssen alles verstehen. Karajans Brahms klang besser, nachdem er Webern dirigiert hatte", meint Rattle.

Vor Monaten wollte man ihm einen Verlust des Berliner Klangs andichten. Das hat sich gelegt, und Rattle sieht es positiv: "Ich glaube, ich bin nicht der Erste in der Geschichte der Berliner Philharmoniker, der mitunter schlechte Kritiken bekommt. Ich glaube, ich täusche mich nicht, wenn ich meine, dass es das schon gegeben hat. Das ist nun einmal ein Teil davon, es zwingt uns nachzudenken, was wir sind. Letztlich sind wir auch ein sehr junges Orchester." Und etwas schmunzelnd: Natürlich, es könnte nicht einmal ein sehr schlechter Dirigent das zerstören, was dieses Berliner Orchester ausmacht.

Nun, grundsätzliche Kritik mag doch etwas Neues für Simon Rattle gewesen sein. Einen Maestro des 21. Jahrhunderts hat ihn die New York Times genannt. Seine Karriere entwickelte sich über sorgfältige Arbeit, die einen glaubwürdigen Imagemix zwischen Modernität, Offenheit und Nahbarkeit entstehen ließ. Angebote kamen. Aber Rattle ließ sich nicht hetzen, hatte alles langsam angebahnt - in Birmingham. Mit dem dortigen Orchester hatte er eine Langzeitbeziehung aufgebaut, die 18 Jahre währte.

In dieser Zeit positionierte er sich als lernender Könner, der ein "Provinzorchester" in die erste Liga geführt hatte. Das war kein Bluff. Rattle ist an der Substanz der Musik interessiert, an Details, an Intensität und weniger an einem äußeren Effekt. Wohl deshalb hatte er das erste Berliner Angebot einst abgelehnt, es war seiner Meinung nach zu früh gekommen. 1999 aber dann doch: Da wählte man ihn zum Nachfolger von Claudio Abbado; und seit damals befindet man sich auf einer spannenden Reise, auf der Rattle Individualisten zu einem Kollektiv zusammenschweißen muss. Ohne Eigenheiten zu ersticken. Auch das also eine Frage der Balance. Zu studieren demnächst in Salzburg. (SPEZIAL/ DER STANDARD, Printausgabe, 01.03.2007)