Ein Kriminalroman, der eine Studie über Stille ist. Ein bankrotter Clown als Retter und neuer Jesus, der seine Geliebte geschlagen hat. Zwölf Kinder, die mittels Gedanken die Realität beeinflussen und Erdbeben vorausspüren. Immobilienspekulation und Heilssuche. Liebe, Gewalt, Märchen und Traumata in einer Stadt, die in einer Sintflut unterzugehen droht. Verfolgungsjagden durchs Kanalisationssystem und Rettung im Kloster. Zirkuserinnerungen, Selbstfindung, philosophische Exkurse, eine zarte Vater-Sohn- sowie eine traurige Mutter-Sohn-Beziehung. Der Kleine Prinz und undurchschaubare Konspiration, Mahatma Gandhi und mörderische Action. Wer all diese Stichpunkte in einem Roman unterbringen möchte, der käme kaum über das Schreiben des Exposés hinaus. Geschweige denn würde das Manuskript jemals einer Druckmaschine ansichtig werden.

Nun hat Peter Høeg einen Roman geschrieben, der all diese Bestandteile aufweist. Der einmal Thriller ist, einmal Meditation und einmal Liebesgeschichte, der einmal Spirituelles vermittelt und dann Sehnsucht nach einem weiblichen Prinzip verströmt, der vielstimmige Religionsdebatte ist und rasantes Sciencefiction-Abenteuer.

Verpflichtung

Nach zehn Jahren ist der dänische Erfolgsautor wieder aufgetaucht, zwölf Jahre nach seinem Bestseller Fräulein Smillas Gespür für Schnee . Auch in seinem neuen Buch macht sich jemand auf, nach einem Kind zu suchen. Diesmal ist es der von Steuerfahndung und Ausweisung bedrohte Zirkusclown Kasper Krone aus Kopenhagen, den seit einem Unfall in der Kindheit eines auszeichnet, ein Gehör, mit welchem er in Menschen hineinhorchen kann und deren Gestimmtheit und Gefühlslagen vernimmt. Kasper, der auch als Musiktherapeut arbeitet, macht sich auf die Suche nach Klara Maria, die bei ihm in Behandlung ist und ebenfalls über ein außergewöhnliches Talent verfügt. Das Mädchen verbreitet eine unheimliche Stille um sich. Sie verschwindet plötzlich, und Kasper fühlt die Verpflichtung, sie ausfindig zu machen, zu retten. Doch ihm selbst sind auch Verfolger auf den Fersen, entzieht er sich doch mönchisch auftretenden Polizisten.

Kreuz und quer führt die Jagd, zu ominösen Immobilienspekulanten und in ein Nonnenkloster, in die Unterwelt und in eine Über-Welt der reinen Gefühle und großen Gedanken.

Offenheit der Seelen

Høeg schreibt stellenweise eine Prosa von beeindruckender Dichte. Da fügt sich ein Satz an den nachfolgenden, als könnte es nur dieser Satz sein, dieser eine und kein anderer, der sich am vorigen einhakt, sich dynamisch abstößt und zugleich einen Abstand in sich trägt, der traumwandlerisch sicher zum nächsten weiterleitet. Szenen setzen stimmig ein und schwingen mit prägnanter Eleganz aus. Kasper Krone legt er hinreißend freche Gags in den Mund. Und dann gibt es unvermittelt Brüche: märchenhafte Elemente, eine naive Offenheit der Seelen, eine konsequente Verrätselung und Verwirrung.

Spannungsroman

Warum wirkt dieses Buch so verwirrend, zugleich auch so papieren, die Charaktere so fern und teilweise so irreal? Und das Ganze so staunenswert, aber vor allem so kühl wie ein Kaleidoskop? Die Vermutung liegt nahe, dass Høeg schlicht zu viel wollte: einen Spannungsroman als Vehikel und einen übermächtigen religiös-philosophischen Überbau. "Overwritten" nennt man so etwas im angelsächsischen Sprachraum, überfrachtet bis zum Punkt, an dem die Statik eines Buches nachgibt und lautlos zusammenbricht. In einem Interview berichtete Peter Høeg freimütig davon, mehr als 2000 Seiten mit Entwürfen entsorgt zu haben. Es ist ja nicht schlimm, dass die vielen Rätsel, die er auslegt, nicht alle aufgelöst werden. Ärgerlich ist vielmehr, dass die Aufschlüsselung nicht weiters von Interesse ist. Weder für Høeg noch für die Leserschaft.

Sinuskurve

Das stille Mädchen ist ein Buch, bei dem sich die Aufmerksamkeit hartnäckig in einer merkwürdigen Sinuskurve bewegt: nach oben wie nach unten ausschlagend, und das in anstrengender Permanenz. Noch ärgerlicher ist die Lieblosigkeit, mit der er so aufdringlich wie umständlich die Musik Johann Sebastian Bachs nicht als Leitmotiv einsetzt, sondern als simple Motivations- und Stimmungsreflexion der Figuren. Und wieso er seinem Protagonisten Zitate von Kirchenvätern in den Mund legt und dieser so zum Papiertiger mutiert. So wie vieles andere. Wie die Namen etwa - Kaspers undurchsichtiger Gegenspieler heißt Josef, Nachname: Kain. Wie die Dramaturgie, die willkürlich nicht nachvollziehbaren Tempiwechseln unterworfen ist, je nachdem an welchem Faden der Puppenspieler Peter Høeg gerade zieht. Oder wie der intellektuell gelinde gesagt spärliche Gehalt des Buches, dessen Reflexionen passagenweise haarscharf am Poesiealbumkitsch von Saint-Exupérys Kleinem Prinzen entlangschrammen. Nachgeschmack Peter Urban-Halle hat sich viel Mühe gegeben, den richtigen Ton für die verschiedenen Stilllagen zu treffen, was ihm auch bis auf einige winzige Details gut gelingt. Am Ende bleibt der fade Nachgeschmack, dass dieser angestrengte Menschlich-Göttliche Tragikomödienthriller nichts anderes ist als ein metaphysisch dünnes Kasperltheater. (Von Alexander Kluy/Album, DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.2.2007)