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Karl-Markus Gauß, "Zu früh, zu spät. Zwei Jahre." € 25,60/ 409 Seiten. Zsolnay, Wien 2007. Das Buch ist ab kommender Woche im Handel.

Buchcover: Zsolnay
Die eigene Vergangenheit wachse, während wir in einer Gesellschaft leben, in der alles Vergangene schrumpfe, notiert Karl-Markus Gauß zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Eine genaue Erkundung der nahen sowie weiten Umgebung, der Standpunkte in ihr und der Sichtweisen auf sie, treibt ihn ebenso wie die analytische Beobachtung von Politik und Medien, Schreiben und Denken. Ein Hinschauer ist er, kein Zuschauer. Er sehe die Dinge nur, erkennt Gauß, wenn er vorhabe, über sie zu schreiben.

Zivilisation beginne, wo Mangel in einen Nutzen gewendet werde, heißt es gleich nach der ins Eigene gewendeten Geburtstagskarte: "Weil uns das Fell des Affen verlorenging, mußten wir auf die Idee kommen, Kleider zu erfinden, und wenn ich sehen könnte, ohne schreiben zu müssen, wäre ich einer geblieben."

Weltgeschehen und Privatgeschichte

Für seine Sprachkunst hat Karl-Markus Gauß adäquate Formen gefunden, die jeweils wohl dosierte, klug angeordnete Mischungen aus Tagebuch, Anekdoten, Aphorismen, Essay, Kalendergeschichten und aufgeklärtem philosophischen Roman sind: Reisenovelle, Kulturerzählung, Journal. Sein großes annalistisches Projekt - dessen Titel auf die wesentlichen Dimensionen Zeit, Raum, Ich verweisen - führt er nach Mit mir, ohne mich, dem 2002 publizierten Logbuch geistiger Unabhängigkeit, nach der literarischen Chronik Von nah, von fern (2003) nun mit dem Band Zu früh, zu spät weiter.

Er berichtet über "Zwei Jahre", wie der Untertitel angibt, von Jänner 2003 bis Dezember 2004, und bringt ein vielschichtiges Panorama im Großen und im Kleinen kurzweilig nahe: Weltgeschehen und Privatgeschichte, die doch nicht im Privaten bleiben kann, Gegenwärtiges und historische Wurzeln.

Der Denkschreiber setzt auch scheinbar Auseinanderliegendes in einen Zusammenhang gegenseitiger Erhellung; dabei lässt er die Methode nicht unreflektiert. Bei Montesquieu schätzt er, wie eine bewegliche Vernunft prompt auf das reagiert, "was die Zeit ihr an Neuigkeiten, Zumutungen, Reichtümern, Versuchungen zu bieten hat". Dazu verfügte der französische Baron freilich über neunzehn Sekretäre und sechs Vorleser. "Nur ich soll wieder alles alleine machen" - Vorgänger und ironische Distanz.

An Varnhagen von Ense fasziniert Gauß, wie er durch verschiedene Sphären des Geistes und des gesellschaftlichen Lebens flaniert, "und man hat den Eindruck, er habe sich so recht eine Form erschaffen, die es ihm erlaubt, sich alle literarischen Freiheiten zu nehmen, nach denen es ihn verlangt". Insbesondere aus dem mittel- und osteuropäischen Raum seiner Familien- sowie Erfahrungsgeschichten bringt er einige Ohrenzeugen und Erinnerungsdichter auf seine Sprachbühne, Elias Canetti und Manès Sperber, einige Tagebuchschreiber und erzählende Essayisten, Aleksandar Tisma und Henri-Frédéric Amiel. Eingedenk der "Culturbilder" von Karl Emil Franzos deklariert er pro domo sein fortwährendes Interesse an solchen Überschreitungen der Genres; in der Literatur des "Stilkünstlers" Jean Améry, so fühlt Gauß und bezichtigt sich sogleich der Anmaßung, begegne er sich selbst.

Unkulturexempeln

In Zu früh, zu spät begegnen wir einer Vielfalt von Kulturbildern und Unkulturexempeln. Sie ergeben eindringliche Zeit- und Sprachdiagnosen, die, wenn auch nicht in allen Fällen Einverständnis, so wohl Verständnis bewirken. "Es wird Krieg", so beginnt dieses Journal mit der Erinnerung an das Nonstopkino der Kindheit, mit einem Wiener Neujahrsrummel in militärischer Diktion - solche Interferenzen gehören zu den feinen Mitteln Gauß'schen Stilvermögens - und mit dem politisch-medialen Sturm vor dem Irakkrieg.

Historisches Wissen

In der Abfolge von meist ein- bis zweiseitigen Passagen kommt Gauß auf Kunstüberlegungen, Pressesplitter, österreichische Zustände, auf Wohnort und Kulisse Salzburg, auf Reisen und Begegnungen, zeichnet er in knappen Strichen einprägsame Charaktere und Straßenszenen. Einen roten Faden bildet die Geschichte seiner Familie aus der Wojwodina, dem Banat, in der man mit mehreren Sprachen und Zuordnungen umzugehen wusste. War der Großvater die zentrale Bezugsperson in Von nah, von fern, so geht es in Zu früh, zu spät immer wieder um den Vater, der über ein immenses historisches Wissen verfügte und eine Vertriebenenzeitschrift redigierte, um die Mutter, die im Alter ihr Leben aufzuzeichnen begann. Mit ihrem Tod schließt der Band.

Welt und Sprache. Gauß erzählt von Berlusconis EU-Ratspräsidentschaft, von Tücken und Lücken der Globalisierung, der Religion des Neoliberalismus. Er berichtet von Lektüren, die er nachvollziehbar auf seinen Punkt bringt; er nimmt Fassaden unter die Lupe, um sie mit der Verve eines Karl Kraus in ihrer Bedenklichkeit dem Nachdenken und dem Lesegenuss anheimzustellen. Vor dem Irakkrieg "sehen wir im Fernsehen gutgelaunte Leute, deren gute Laune es nicht trübt, daß wir sie für Lügner halten".

Die Kulturberichterstattung sei zur Berichterstattung über einen Krieg geworden, "der gar nicht erklärt wurde, aber dennoch beständig und ohne Aussicht auf Ende geführt wird, während die Kriegsberichterstattung tut, als würde sie von Events berichten, deren größten Reiz es ausmacht, daß sie immer dort stattfinden, wo zwar unsere Kameramänner, aber nie wir selber sind."

"Zwang zur falschen Alternative"

Wider jede Art von Phrasenschleuder erhebt Gauß seine Einwände: gegen das Gewäsch vom "Sachzwang", gegen einen Justizirrtum im Kleinamtsdeutsch, gegen Schüssels Gerede von "Reform" und insgesamt gegen einen "Zwang zur falschen Alternative", der ihm auch die Formel vom "anderen Österreich" problematisch erscheinen lässt. Er setzt sich mit Methoden der Macht auseinander, mit der "Avantgarde", etwa des Wiener Aktionismus (diese "Revolte war immer gewaltsame Regression, jetzt aber hat sie endlich ihr Ziel erreicht: Sie erfreut das Gemüt des Spießers").

Den Sprachskeptikern, die jedwede Beschreibungsunmöglichkeit so umfangreich wortreich veröffentlichen, setzt er seine Formulierungskunst entgegen: "Der Selbstwiderspruch, in dem sich die sprachzweifelnden Sprachabarbeiter befinden, hat noch kaum einen von ihnen mit dem Zweifel infiziert, daß er sich entweder im Irrtum über seine eigenen Voraussetzungen und sein Tun befinde oder daß, was er treibe, schlichtweg das Unsinnige sei."

Mit feinen Verbindungen gibt Gauß seinem Buch ein gemeinsames Netz von Themen und Motiven, etwa mit den Überlegungen zum Essay, zum Verhältnis USA-Europa, mit dem Vandalen-Motiv oder der Wiederholung einer Formulierung in einem späteren, anderen Kontext. "Der erste Amerikaner meines Lebens war mein Cousin", heißt es im 3. Kapitel "Ach, Amerika"; "Der erste Slowene meines Lebens war ein halber Serbe und ein halber Donauschwabe", beginnt das 18. Kapitel.

Die Beziehungen weisen weit über den Rand einer einfachen Weltsicht hinaus. Dank der annalistischen, der literarischen Form des Karl-Markus Gauß wächst auch mit Zu früh, zu spät viel mehr als die eigene Vergangenheit. (Von Klaus Zeyringer/DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.2.2007)