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Tatort Gramastetten: Muss die soziale Kontrolle draußen bleiben?

Foto: Reuters
Schnell ist man mit dem Vorwurf zur Hand, die Jugendwohlfahrt habe versagt - ohne die seit Jahren von der Politik betriebene "Aushungerung" der Sozialarbeit auch nur ansatzweise in Rechnung zu stellen.

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Die Tragödie der "Geiselkinder" aus Linz zeigt einmal mehr die Grenzen des modernen Sozialstaates auf. Derzeit matchen sich gerade die beteiligten Behörden wie Gemeinde, Bezirkshauptmannschaft, Jugendwohlfahrt, Gericht, Gutachter und Schulbehörden, wer denn die "Hauptschuld" an dieser Familientragödie trägt. Vermutlich wird es - wieder einmal - die Sozialarbeit in Form der Jugendwohlfahrt treffen.

Verfolgt man die Entwicklung des Familiendramas, kann man unschwer erkennen, dass die Pistolenläufe auf die verantwortlichen Sozialarbeiter/innen schon gerichtet sind (von einer "Fehleinschätzung" der Jugendwohlfahrt spricht beispielsweise Landesrat Ackerl).

Zielführender als derartige Schnellurteile schiene mir, im Vorfeld der behördlichen Ermittlungen eine sorgfältige Analyse des unmittelbaren Lebensumfeldes der drei Mädchen durchzuführen. Ebenso auffällig wie befremdlich ist doch - auch ohne schon über genaue Detailkenntnisse zu verfügen -, dass die christlich-soziale Bürgergesellschaft wie auch der auf Solidarität aufgebaute Kommunitarismus in Linz offensichtlich völlig versagt haben.

Kinderfeindlichkeit

Wo waren denn alle relevanten Mitglieder des näheren sozialen Umfeldes der Gramastettner Familie, wie Omas, Opas, Tanten, Onkeln und sonstige Verwandte, Freunde, Nachbarn und Vertreter der Kommune? Haben sich alle von der Mutter "blenden" und "einschüchtern" lassen?

Es ist bestimmt kein Zufall und spiegelt tendenziell die kinderfeindliche Wertehaltung in Österreich wider (siehe aktuelle OECD-Studie oder Aussagen der neuen Familienministerin, Stichwort: "Kinderlos, na und?"), dass sich die unmittelbare Lebensumwelt offenbar an der "Vermüllung" und einem verwahrlosten Hund gestoßen hat und nicht an der problematischen Situation der Kinder.

Dies zu erwähnen ist deswegen wichtig, weil man so zumindest ansatzweise das zögerliche, unkoordinierte und laxe Verhalten der beteiligten Behörden erklären kann. Diese sind nämlich vielfach auf die Signale und Informationen aus dem sozialen Umfeld einer vermutlich problematischen Familie angewiesen. Mangelt es an solchen Informationen, es für die zuständigen Behördenvertreter umso schwieriger, adäquat vorzugehen, weil bei diesem Puzzle viel zu viele Teile fehlen, um zu einer halbwegs objektiven Einschätzung der Sachlage kommen zu können.

Wie eingangs erwähnt, schieben sich die Vertreter der jeweiligen Institutionen gegenseitig die Schuld in die Schuhe, und man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass die Sozialarbeit, im gegenständlichen Fall die Jugendwohlfahrt, dabei "übrig bleiben" wird.

Förderlich für diese bedauerliche Situation ist mit Sicherheit das diffuse Bild in der Öffentlichkeit über das, was Sozialarbeit kann und nicht kann. Nimmt man etwa nur einen wesentlichen Aspekt in dieser Causa heraus, nämlich, dass Sozialarbeiter/innen bei Fällen von "Gefahr in Verzug" bzw. "Kindeswohlgefährdung" nicht für die Bezirkshauptmannschaft tätig sind, sondern für das zuständige Gericht, dann wird deutlich, dass über das Kindeswohl Richter und nicht Sozialarbeiter entscheiden.

Sparneurose

Im gegenständlichen Fall hat es ja mehrere Verhandlungen gegeben. Und nun hört man von der oberösterreichischen Landespolitik, dass die Sozialarbeiter/innen den Fall dem Gericht nicht "dramatisch genug" präsentiert hätten ...

Wenn die zuständigen Politiker aufgrund dieser Vorkommnisse nun bereit sind, strukturelle Veränderungen im Bereich Jugendwohlfahrt vorzunehmen, dann ehrt sie das. Wie unhaltbar die Zustände teilweise sind, wissen sie allerdings nicht erst seit gestern. Nur solange nichts "passiert", hat ein "Nulldefizit" halt einfach mehr medialen "Sex" als genügend Geld für die soziale Arbeit (vgl. Hans Rauschers Kommentar im STANDARD vom 18.2.).

Die Rahmenbedingungen haben sich ob der "Sparneurosen" der alten Bundesregierung im Jugendwohlfahrtsbereich teilweise dramatisch verschlechtert: Ein/e Sozialarbeiter/in auf einem Jugendamt betreut sehr oft einen oder zwei Sprengel mit bis zu 20.000 Einwohnern. Von einer adäquaten psychosozialen Betreuung kann bei diesem Betreuungsschlüssel wohl nicht die Rede sein.

Dazu kommt: Trotz einer nunmehr akademischen Ausbildung (Fachhochschule) werden Sozialarbeiter/innen vor allem in ländlichen Gebieten nach wie vor wie B-Maturanten entlohnt. Das magere Anfangsgehalt bewegt sich bei rund 1700 Euro Brutto - wenig Geld für viel Verantwortung.

Viele Jugendämter bekommen aufgrund dieser Rahmenbedingungen kein professionelles Personal mehr, bis dato hat die Politik auf diese Umstände allerdings nicht reagiert, weil es "eh schon irgendwie geht". Diese Defizite bedeuten natürlich keinen Persilschein für Sozialarbeiter, die individuelle Fehler machen, im Gegenteil. Die Sozialarbeit hat dort, wo sie neben dem Unterstützungsauftrag auch einen Kontrollauftrag (doppeltes Mandat) ausüben muss, diesen auch anzunehmen. Was einschlägigen Umfrageergebnissen zufolge aber nur rudimentär der Fall ist. In der Tat entspricht ein unangekündigter und durchgesetzter Hausbesuch auch vielleicht nicht lupenrein den ethischen Grundsätzen in der Sozialarbeit, er hätte im aktuellen Fall aber möglicherweise viel Leid verhindert.

Bleibt zu hoffen, dass diese Causa als Chance gesehen wird, das gesamte System im Jugendwohlfahrtsbereich im Interesse der Kinder und Jugendlichen neu zu überdenken und mit ausreichenden Mitteln zu dotieren. Frei nach dem Motto: "Ein guter Tag beginnt mit mehr Geld für eine bessere Jugendwohlfahrt." (Roland Fürst/DER STANDARD-Printausgabe, 20.02.2007)