Reinhold Glehr (59) ist Arzt für Allgemeinmedizin in Hartberg mit Zusatzdiplomen in den Bereichen Psychosoziale, Psychosomatische und Manuelle Medizin. Er ist Vorstandsmitglied der Steirischen Akademie für Allgemeinmedizin und der ÖGAM, der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin. Im Rahmen der ÖGAM leitet er den Arbeitskreis Qualitätssicherung. Er ist mit einer Lehrerin verheiratet und hat drei Kinder.

Foto: Standard/Christian Grass

Heiner Krammer (46) ist Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie, Ernährungsmediziner und Koloproktologe. Er leitet eine Praxis für Gastroenterologie und Ernährungsmedizin in Mannheim. Als Universitätsprofessor lehrt er Innere Medizin an der Universität Heidelberg. Er ist Mitglied zahlreicher deutscher und internationaler Fachgesellschaften, Mitherausgeber und Autor von Fachzeitschriften. Mit seiner Frau, einer Kinderärztin, hat er zwei Kinder.

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Die Darmflora ist ein empfindliches Gebilde. Sie will gepflegt sein. Über Erkrankungen, Vorsorge und heilsame Bakterien sprach Jutta Berger mit dem deutschen Darmspezialisten Heiner Krammer und dem steirischen Allgemeinmediziner Reinhold Glehr .

STANDARD: Wie erkennt man Alarm im Bauch, bei welchen Symptomen sollte man zum Arzt, zur Ärztin gehen?

Krammer: Alarmsymptome für ernsthafte organische Erkrankungen sind Gewichtsverlust, Blut im Stuhl, aber auch Schmerzen, Verstopfung und Durchfall über einen längeren Zeitraum.

STANDARD: Blut im Stuhl muss ja nicht immer sichtbar sein.

Krammer: Genau. Wir haben aber mit Brieftests die Möglichkeit, auch verstecktes, so genanntes okkultes Blut nachzuweisen. Wenn auch dabei nur ein einziges Mal Blut gefunden wird, soll ein Spezialist aufgesucht und eine Darmspiegelung gemacht werden.

Glehr: Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung ist der Test ab dem 50. Lebensjahr vorgesehen. Wenn länger andauernde Beschwerden vorhanden sind, ist dieser Hämocult-Test auch bei jüngeren Menschen zu empfehlen.

Krammer: Ein Test bringt aber keine 100-prozentige Sicherheit. Deshalb soll man ab dem 55. Lebensjahr auch bei Patienten ohne Beschwerden eine Vorsorge-Koloskopie durchführen lassen. Medizinisch sinnvoll ist es ab 50. Es braucht aber noch viel Aufklärung, denn nur unter 20 Prozent der Bevölkerung nehmen das Angebot auch an. Die Menschen haben völlig unbegründete Ängste vor einer Darmspiegelung. Dabei gibt es die Möglichkeit einer "Schlafspritze".

STANDARD: Über eine Million Menschen in Europa, 30.000 in Österreich, leiden an chronisch-entzündlichen Darm- erkrankungen. Warum braucht es oft Jahre bis zur Diagnose?

Krammer: Eine der Ursachen ist, dass die Patienten zu spät zu einem Experten, also Gastroenterologen, kommen.

Glehr: Ein Problem bei chronischen Beschwerden im Bauchraum ist, dass sie sehr stark wechseln, oft mit Zwischenphasen ohne Beschwerden. Seelische Belastungen, Stress, Überforderung können Schübe auslösen. Grundlage der Diagnose ist eine ausführliche Anamnese und eine umfassende körperliche Untersuchung. Wenn der Patient wiederholt zum selben Arzt geht, ist die Möglichkeit größer, die Beschwerden als chronisches Geschehen zu erfassen und intensivere Untersuchungen beim Facharzt zu veranlassen.

STANDARD: Warten Hausärzte zu lange, bis sie Patienten zum Spezialisten schicken.

Glehr: Wechselnde Darmbeschwerden wurden lange Zeit zu wenig ernst genommen. Die Auseinandersetzung mit der Bakterienflora im Darm kam etwa in meiner Ausbildung - das ist jetzt schon 30 Jahre her - nicht vor. Als ich auf der Universität war, da war der Magen keimfrei, der Dünndarm extrem keimarm, und was sich im Dickdarm bakteriell abspielt, war im Großen und Ganzen uninteressant. Das hat sich verändert. Die Entdeckung des Helicobacter pylori war die Revolution. Da hat man festgestellt, dass es mehr an chronischer Fehlbesiedelung im Magen-Darmbereich gibt, als man sich je vorgestellt hat.

STANDARD: Woran liegt es, dass das Immunsystem plötzlich die Toleranz gegen die eigenen Darmkeime aufgibt?

Krammer: Bei den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen haben wir eine überschießende Abwehrreaktion des Körpers, eine Entzündungsreaktion auf Umweltfaktoren. Darmflora, Ernährung und eine genetische Disposition haben dabei einen Einfluss. Letztendlich sind die Ursachen aber noch nicht geklärt. Wir beobachten derzeit allgemein einen Zuwachs an solchen Erkrankungen.

STANDARD: Sind Ernährung und Lebensstil Hauptauslöser?

Krammer: Es gibt eine sehr akzeptierte Theorie, die "Hygienetheorie". In Ländern, in denen die hygienischen Standards niedrig sind, finden wir weniger Patienten mit chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Daraus kann man sehen, dass eine von Kindheit an erlernte Auseinandersetzung zwischen Abwehrsystem und Umwelt erforderlich ist. Das Immunsystem kann, wenn es nicht ausreichend trainiert wird, bald überreagieren. Für die Ernährung gibt es jedoch keine spezielle Diät. Empfohlen wird eine ausgewogene Ernährung nach den Richtlinien der ernährungswissenschaftlichen Gesellschaften, wie ballaststoffreiche Kost, viel Obst und Gemüse, wenig Fleisch, mehr Fisch. Und natürlich Bewegung.

Glehr: Exzesse, egal ob Ernährung oder Alkohol, auch Infekte, bringen die Darmflora durcheinander. Wiederholte Störungen des individuellen Musters der Darmflora führen dazu, dass sich das Gleichgewicht der unterschiedlichen Bakterien nicht wieder stabilisieren kann. Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen sind beim Hausarzt relativ selten. Ein Großteil der Patienten kommt mit chronischen Reizzuständen, also Reizdarmsyndrom.

STANDARD: Diese Patienten mit Reizmagen oder Reizdarm sind bei der Ärzteschaft nicht die "beliebtesten".

Krammer: Ihre Behandlung ist eine riesige Herausforderung. Denn wir reden von Menschen, die Symptome haben, die sehr belasten können, wie Verstopfung, Durchfall, Luft im Bauch, Schmerzen. Man findet aber keine Ursache. Ein großes Problem für die Patienten, aber auch für den Arzt. Denn nichts ist schwieriger, als nicht vollständig helfen zu können.

STANDARD: Wie kann man diesen Patientinnen und Patienten das Leben erleichtern?

Glehr: Mit der Diagnose Reizdarm und der Aussage "Das ist nix Schlimmes" ist die Sache nicht erledigt. Es ist zwar die große Angst weg, z. B. Krebs zu haben, aber die Beschwerden sind ja weiter vorhanden. Der Arzt muss sich der Herausforderung mit Empathie stellen. Der Patient braucht Zuwendung, nicht nur irgendein krampflösendes Medikament.

Krammer: Man muss eine positive Diagnose formulieren, die Beschwerden sehr ernst nehmen, Verständnis aufbauen und weitersuchen nach möglichen Ursachen. Eine der häufig vergessenen Differentialdiagnosen ist die Nahrungsmittelunverträglichkeit. Wichtig ist die Abklärung von Milchzucker-, Fruchtzucker-, Zuckerersatzstoffunverträglichkeit. Informationen mitgeben, Hinweise auf Literatur, Websites und auch Selbsthilfegruppen. Den Patienten mit der Message "Sie haben nichts" zu entlassen, schadet nicht nur dem Patienten, sondern auch der Ärzteschaft. Dann kommt es nämlich zu einem Arzt-Hopping.

STANDARD: Hat man als Hausarzt Zeit für diese Gespräche?

Glehr: Die Hausarztmedizin ist vor allem auch eine "sprechende" Medizin. Es gibt viele Hilfsmittel, die beitragen können, effektiver zu sein. Eines davon ist ein Beschwerde-tagebuch. Der Patient nimmt sich die Mühe und notiert die Zusammenhänge, das erleichtert das Gespräch. Voraussetzung einer Behandlung bei anhaltenden oder immer wiederkehrenden Magen-Darm-Beschwerden ist eine sorgfältige Differenzialdiagnose. Krebs-erkrankungen, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Laktasemangel, Fruktose- oder Histaminintoleranz, spezifische Nahrungsmittelunverträglichkeiten müssen ausgeschlossen werden. Stellt sich ein Reizdarm als Diagnose heraus, müssen die fünf häufigen Beschwerdebereiche - Schmerzen, Verstopfung, Durchfall, Blähungen und psychische Probleme - jedes für sich behandelt werden.

STANDARD: Produzenten von Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmitteln versprechen Gesundheit aus dem Supermarktregal. Ist das seriös?

Krammer: Nahrungsergänzungsmittel, Spurenelemente, orthomolekulare Medizin, Vitamine und dergleichen haben einen gewissen Stellenwert, können eine gesunde Ernährung aber nicht ersetzen. Auch Probiotika können hier sinnvoll sein.

Glehr: Dass sich die Nahrungsmittelindustrie der gezielten Beeinflussung der Darmbakterien zugewandt hat, ist erfreulich. Allerdings werden in groß angelegten Kampagnen zum Teil Heilswirkungen versprochen, die nicht gehalten werden können und dadurch Gutes in Misskredit bringen.

Krammer: Andererseits ist die Werbung erforderlich, um die Bevölkerung auf das Potenzial der Probiotika und ihre Wirkungen aufmerksam zu machen.

STANDARD: Gibt es evidenzbasierte Beweise für deren Wirksamkeit?

Krammer: Wenn ich als Arzt einen Griff ins Regal empfehle, dann muss der wissenschaftliche Nachweis gegeben sein. Wie etwa beim Lactobacillus casei Shirota. Da gibt es Studien, die zeigen, dass sich Verdauung oder Verstopfung bessert. Ich habe keine Probleme damit, dieses Präparat, Yakult, zu empfehlen, da es sich um exakt definierte Keime handelt, die klare Effekte auf das Immunsystem und Magen-Darm-Funktionen haben. Das belegen auch Studien.

STANDARD: Welche Bakterien helfen bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, welche bei Reizdarm?

Krammer: Ein schönes Beispiel ist, dass bei der remissionserhaltenden Therapie der Colitis ulcerosa das Probiotikum Escherichia coli Nissle als Medikament zugelassen ist. Bei Verdauungsproblemen im Sinne einer Verstopfung helfen probiotische Nahrungsmittel wie der Lactobacillus casei Shirota und auch das Bifidobacterium digestivum. Kontraindikationen für die Einnahme probiotischer Nahrungsmittel gibt es nicht. Aber die heilsamen Bazillen müssen noch besser erforscht werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.2.2007)